- Der Rücktritt des ranghohen Putin-Beraters Anatoli Tschubais und die Absetzung zahlreicher Generäle zeigt Risse in Putins Machtzirkel auf.
- Aus Angst vor einem Putsch und aus Unzufriedenheit über nachrichtendienstliche Informationen soll Putin derzeit "interne Säuberungen" durchführen.
- "Im Kreml macht sich Unbehagen breit", sagt der Militärexperte Gustav Gressel.
Es könnte eine Meldung mit Signalwirkung gewesen sein: Mitte der Woche (23.) wurde der Rücktritt des langgedienten Kreml-Politikers und Sonderberaters von Wladimir Putin, Anatoli Tschubais, bekannt. Der 66-Jährige hat sich mit seiner Frau in die Türkei abgesetzt, dies soll nach Medienberichten in Zusammenhang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine stehen.
Tschubais ist die bislang höchstrangige Persönlichkeit, die Putin seit Beginn der Invasion die Loyalität entzieht. Der Liberale hatte über lange Zeit zentrale Positionen im russischen Politikapparat besetzt und war massgeblich an postkommunistischen Reformen in den 1990er Jahren beteiligt. Unter Putin-Vorgänger Boris Jelzin war Tschubais Leiter der Präsidialverwaltung, ging danach in die Wirtschaft. Im Dezember 2020 wurde er von Putin zum Sonderbotschafter für die nachhaltige Entwicklung Russlands ernannt.
Risse im Führungszirkel?
Deuten sich erste Risse in Putins Führungszirkel an? Militärexperte Gustav Gressel ist skeptisch. "Ich wäre zurzeit noch vorsichtig. Auf die wirtschaftstechnokratischen Leute aus der Jelzin-Zeit hat Putin schon lange nicht mehr gehört", kommentiert er den Rückzug Tschubais. Es sei schwer einzuschätzen, wie eng das Verhältnis zuletzt noch gewesen sei.
Doch es gibt weitere Gerüchte über Unbehagen im Moskauer Machtzirkel und verdächtige Abwesenheiten rund um Putin. In den vergangenen Wochen gab Putin mehreren Generälen den Laufpass, stellte sie unter Hausarrest oder liess sie verhaften. Zunächst hatte es führende Köpfe des Inlandsgeheimdiensts FSB getroffen, nun wurde der stellvertretende Chef der Nationalgarde, Roman Gawrilow, gefeuert. Acht Generäle sollen im Krieg bereits entlassen worden sein.
Interne "Säuberungen"
Wie das US-amerikanische "Institute for the Study of War" analysiert, führt Putin interne "Säuberungen" unter seinen Generälen und Geheimdienstmitarbeitern durch. Als Motiv wird eine Vergeltungsmassnahme für fehlerhafte Prognosen zum Kriegsverlauf genannt, die sie ihm seiner Meinung nach geliefert haben. Der Widerstand in der Ukraine hatte den russischen Machthaber überrascht.
Weiteren, bislang unbestätigten Medienberichten zufolge will Putin die Zentralbank-Chefin Elvira Nabiullina austauschen. Es kursieren auch Gerüchte über einen möglichen Rücktritt. Nabiullina ist für ihre symbolträchtige Kleidung bekannt – eine Brosche in Form eines Hauses wurde zu Beginn der Corona-Pandemie als Appell gedeutet, zuhause zu bleiben. Bei einer Pressekonferenz Anfang März erschien Nabiullina zuletzt ganz in schwarz gekleidet – Begräbnisstimmung.
Unmut im Kreml
"Es gibt grössere Unzufriedenheit im Kreml, in der wirtschaftlichen Elite ebenso wie in den Sicherheitsbehörden. Die Bilder der ausgesetzten Generäle in den letzten Tagen zeugen davon", sagt auch Experte Gressel. Viele seien der Meinung, Putin habe zu hoch gespielt und schade dem Land auf Dauer.
Dass die Rücktritte und Absetzungen für Putin systemkritisch werden, glaubt Gressel allerdings nicht. "Nur wenige ziehen zu diesem Zeitpunkt direkte Konsequenzen aus ihrem Unmut", sagt er.
Angst vor Attentat
Im Fokus steht auch Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Laut Recherchen russischer Journalisten ist der enge Vertraute Putins und einer der Hauptverantwortlichen für den Krieg in der Ukraine seit knapp zwei Wochen nicht mehr öffentlich aufgetreten. Das sät Zweifel an seiner Loyalität. Der Kreml wies Spekulationen allerdings zurück: "Der Verteidigungsminister hat im Moment viel zu tun", hiess es.
Angst vor einem Putschversuch dürfte Putin dennoch haben. Er soll seinen Beraterkreis auf ein Minimum beschränkt haben und sich zunehmend isolieren. "Wenn Putin beseitigt werden soll, müsste sich eine Verschwörung gegen ihn formieren. Aus seinem inneren Kreis müssten sich Leute aktiv zusammentun", sagt Gressel.
"Es herrscht eine Kontrollhysterie"
Wer – wie Tschubais – aus Russlands Elite ins Ausland fliehe, könne zwar sein Geld behalten, sei von der Macht aber fortan ausgeschlossen. "Tschubais hat jetzt keine Machtinstrumente und politischen Einflussmöglichkeiten mehr", sagt Gressel.
Gleichzeitig würden die russischen Nachrichtendienste alle Mittel und Register ziehen, um Verschwörungen aufzudecken und zu beseitigen. "Es herrscht eine Kontroll- und Überwachungshysterie, sie macht es schwer, sich gegen Putin politisch zu verschwören", meint Gressel. Zudem biete sich zeitnah kein innenpolitischer Anlass, um "Veränderungen jenseits eines Tyrannenmordes herbeizuführen".
Gelegenheit noch nicht da
Gressel verweist diesbezüglich auf den Zusammenbruch der Sowjetunion: "Die Sowjetunion ist nicht direkt kollabiert, weil der Afghanistankrieg in den Sand gesetzt wurde", so der Experte. Als es 1991 zum Putsch gegen Gorbatschow kam, hätten allerdings Teile der Roten Armee den Gehorsam verweigert – "eben weil Afghanistan so eine Niederlage war und sie nicht noch einmal in Polen oder im Baltikum in einen Besatzungskrieg eintreten wollten", macht Gressel klar.
Erst mit dem Putsch habe sich aber die Möglichkeit aufgetan, Dissens in politisches Handeln umzumünzen. "Dafür gibt es derzeit keinen Anlass", so Gressel. Noch nicht jedenfalls.
Verwendete Quellen:
- Infobae: Putin will Elvira Nabiullina an der Spitze der russischen Zentralbank erneuern. 18.03.2022
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