- Viele Aspekte des aktuellen russischen Handelns hat man in der Vergangenheit schon einmal gesehen.
- Es geht um die Unterordnung des Volkes unter eine starke Führungsfigur oder die angebliche Angst vor einer ausländischen Invasion.
- War der Angriffskrieg also nur eine logische Folge der russischen Geschichte? Experten sind skeptisch.
Am 24. Februar überfiel
"Wenn man die Worte und Taten der russischen Regierung in den letzten Jahren verfolgt hat, dann war eine klare Radikalisierung zu erkennen", sagt Historikerin Martina Winkler. Dennoch hätten viele nicht erwartet, dass Putin einen Krieg beginnt. "Beobachter haben eher mit weiteren kleineren Schritten gerechnet und nicht mit so einem eklatanten Völkerrechtsbruch, der überhaupt nicht mehr legitimistisch verpackt ist", sagt die Expertin.
Wladimir Putin: Problematisches Geschichtsverständnis
Auch Historikerin Franziska Davies erinnert an die Kriege gegen Tschetschenien und Georgien, die Annexion der Krim und das Eingreifen in Syrien an der Seite Assads. "Wenn man das betrachtet, dann handelt es sich um keinen Bruch zu Putins bisheriger Politik", sagt sie. Was wir jetzt in Mariupol gesehen hätten, sei auch schon in Grosny passiert. War Russlands Krieg gegen die Ukraine also eine Folge der Geschichte?
"Nein", ist sich Winkler sicher. "Eine einheitliche historische Vergangenheit, die zwangsläufig zum jetzigen Angriff führen musste, gibt es nicht. Die Konstruktion der langen Linien der russischen Geschichte ist hochproblematisch." Putin nehme diesen Legitimationsversuch vor, man dürfe auf sein Narrativ aber nicht eingehen.
Russland war immer wieder aggressiv
Auch Historiker Lars Deile sagt: "Zu behaupten, dass der kleine Putin im St. Petersburger Hinterhof, der KGB-Agent in Dresden 1989, der Redner 2001 im Deutschen Bundestag und der Putin, der am 21. Februar dieses Jahres den Überfall auf die Ukraine quasi erklärt hat – dass all diese Personen die gleichen waren und sein werden und man das Verhalten der Gegenwart schon in der Vergangenheit hätte voraussagen können, das ist zwar einladend, aber unterkomplex."
Russland habe sich in seiner Geschichte immer wieder aggressiv gegenüber Nachbarn verhalten. Aber daraus könne man keine historische Mission erklären. "Es gab und gibt auch Leute und Länder, die der Meinung sind, im Deutschen an sich stecke ein aggressives Nazi-Gen. Diejenigen, die 1989 diese Vorbehalte überwunden haben, haben die Wiedervereinigung Deutschlands erst möglich gemacht", erinnert er.
Russisches Geschichtsbild stärker von Heldentum geprägt als vom Opfertum
Auch die Angst vor einer Invasion halten die Experten nicht mit historischen Erfahrungen begründbar. "Zwar gab es in der Historie beispielsweise die Invasion durch Napoleon, den Angriff Hitlers auf die Sowjetunion und auch Polen hat Moskau im frühen 17. Jahrhundert besetzt. Man kann aber nicht davon sprechen, dass das zu einem kollektiven Trauma geführt hätte", sagt Winkler.
Die jetzt vorgebrachte Angst sei nur vorgeschoben. "Das russische Geschichtsbild ist stärker vom Heldentum als vom Opfertum geprägt", sagt Winkler. Die Aktionen der russischen Regierungen zeigten, dass es sich um eine rücksichtslose Vernichtung handele und keinesfalls um einen mit Sicherheitsbedürfnissen motivierten Präventivkrieg.
Auch Expertin Davies macht deutlich: "Der imperiale Anspruch, dass die Ukraine Teil Russlands ist, steht an erster Stelle." Diese Idee lasse sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. "Es führt natürlich kein direkter Weg vom 19. Jahrhundert zum jetzigen Angriffskrieg, aber dieses historische Feindbild ist in der russischen Gesellschaft mobilisierbar und radikalisierbar", erklärt sie.
Schwerwiegendes Trauma
Historiker Deile hält den Zusammenbruch der Sowjetunion, von innen heraus, für die prägendste Erfahrung Russlands in der Generation der jetzt Handelnden. "Von einer geopolitischen Weltmacht stürzte die Sowjetunion als Russland in eine tiefe Bedeutungslosigkeit. Das scheint mir ein schwerwiegendes Trauma zu sein, das bis heute massiv nachwirkt", sagt er. Man müsse nun schmerzhaft lernen, dass der Kalte Krieg nie wirklich vorbei gewesen sei.
Expertin Winkler hat beobachtet, welches Geschichtsbild Putin dabei verbreitet. "Putin argumentiert damit, dass Russland eine starke Führungsfigur braucht und reaktiviert positive Erinnerungen an Stalin, Peter den Grossen und Iwan den Schrecklichen", sagt sie.
Russische Expansion seit dem 16. Jahrhundert hatte andere Intention als Putin jetzt
Zwar habe Russland weniger Erfahrung mit demokratischen Strukturen und Institutionen als andere Länder gemacht, das heisse aber nicht, dass es so bleiben müsse. Historische Strukturen als Erklärungsmodell seien im Allgemeinen hochproblematisch, die Verknüpfungen, die Putin teilweise ziehe, schlichtweg falsch.
"Das russische Imperium hat seit dem 16. Jahrhundert expandiert, aber der Schlüsselbegriff ist am ehesten Pragmatismus. Neue Territorien wurden auf sehr unterschiedliche Weise angeschlossen, es gab neben gewaltsamer Einnahme auch Verträge und Kooperationen mit lokalen Eliten", sagt Winkler. Der jetzige Vernichtungskrieg stehe also ganz und gar nicht in der damaligen Motivation, auch Arbeitskräfte und Steuerzahler dazuzugewinnen.
Deile betont noch einmal: "Das Erklären der Gegenwart aus der Vergangenheit funktioniert immer nur aus den Erfahrungen der Gegenwart heraus." So habe es auch einen Putin gegeben, der 2001 im Bundestag auf Deutsch dafür geworben habe, das Blockdenken zu überwinden und zu gegenseitig nutzbringender Zusammenarbeit zu gelangen.
Putin habe seiner Kriegsrede vom 21. Februar eine lange historische Erklärung der friedfertigen aber auch souveränen Rolle Russlands vorausgeschickt, um der gegenwärtigen Sichtweise damit eine lange Stichhaltigkeit einzuschreiben.
Völkerrecht zählt - und keine historischen Argumente
"Etwas schwächer, aber durchaus ebenso existent, sind historische Argumente auch auf der anderen Seite der Kriegsparteien", erinnert er. Wer die Ukraine im Herzen Europas sehe, der müsse von Oligarchen, von Korruption, von Repressalien gegen Minderheiten, von Ultranationalisten und anderem schweigen.
Davies betont, man müsse trotzdem deutlich machen, dass Geschichte im aktuellen Konflikt irrelevant sei. "Es gibt das Völkerrecht. Wenn alle mit historischen Argumenten anfangen und lange in die Jahrhunderte zurückgehen, gäbe es plötzlich überall neue Machtansprüche", erklärt sie.
Es gibt keine Zwangsläufigkeiten
Deile mahnt: "Wir sollten uns davor hüten, allzu leichtfertig Zwangsläufigkeiten zu unterstellen und Geschichte nur dafür zu nutzen, um die Begrenztheit der eigenen Gegenwart einfach auszuweiten." Der historische Blick könne die Augen dafür öffnen, dass es Zeiten gegeben habe und weiterhin geben werde, die anders waren oder sein werden.
"Darin liegt auch der Kern, dass wir uns daran machen sollten, die Welt nicht sich selbst zu überlassen, sondern zu gestalten", fügt der Experte an. "Wir sollten und müssen das aber vor dem Hintergrund der Tatsache tun, dass nicht jeder denkt wie ich oder wir."
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