- Russland konzentriert sich im nächsten Schritt des Ukraine-Krieges auf den Osten des Landes und bereitet dort eine Grossoffensive vor.
- Was steckt dahinter und wie dürfte es weitergehen?
- Militärexperte Gustav Gressel erklärt eine "Taktik mit dem Vorschlaghammer", die man von Russland bereits aus Syrien kennt.
Nach Erkenntnissen westlicher Militärs bereitet die russische Armee eine Offensive in der Ostukraine vor. Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums soll Russland seine Truppen dort in den vergangenen Wochen bereits von 30.000 auf 40.000 Mann aufgestockt haben.
Wie die Sprecherin des Weissen Hauses, Jen Psaki, sagte, werde die russische Armee voraussichtlich versuchen, die ukrainischen Verbände "einzukesseln und zu überwältigen". Diese halten bereits seit 2014 die Front gegen die von Moskau gesteuerten und bewaffneten Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk. Der österreichische Kanzler
Ostukraine als neues "Minimalziel"?
Die ukrainischen Streitkräfte bereiten sich auf das Szenario einer russischen Grossoffensive bereits vor. Gleichzeitig forderte laut Bericht des "Guardian" Serhij Gaidai, der Gouverneur von Luhansk, alle Bewohner auf, so schnell wie möglich zur Flucht auf.
Dass der Rückzug der russischen Truppen aus der Umgebung der Hauptstadt Kiew bedeutet, dass die Ostukraine Putins neues Minimalziel ist, glaubt Militärexperte Gustav Gressel nicht. "Die offizielle Rhetorik in Moskau hat sich nicht geändert", erinnert er.
Taktik aus Syrien bekannt
Die Ankündigung, sich nun auf den Donbass zu konzentrieren, stamme zudem aus dem Generalstab. "Wir sehen hier mehr eine Beschreibung der militärischen Operationen in den nächsten Wochen und Monaten als eine politische Aussage, was man in der Ukraine erreichen will", analysiert der Experte.
Dabei sei das Vorgehen bereits aus Syrien bekannt. Dort unterstützten russische Truppen 2015 das Assad-Regime. "Man ist auch dort mit kleinen Truppen hineingegangen und hat an allen Fronten gekämpft. Das hat aber nicht funktioniert und man konnte keine Wende herbeiführen", erinnert Gressel. Ein Grund dafür sei gewesen, dass sich die russischen Kräfte zersplittert hatten.
Donbass als einfachstes Ziel
"Ab 2016 hat man dann die Taktik umgestellt und Schwergewicht für Schwergewicht genommen", sagt Gressel. Auf Homs seien, Palymra, später Aleppo und Idlib gefolgt. Das Muster: "Offensive, operative Pause, nächste Offensive vorbereiten" sei nun auch von Russland zu erwarten.
Der Donbass sei dabei als erstes Ziel am einfachsten zu nehmen. "Die Front ist hier kürzer, sodass die Russen eine höhere Konzentration von Truppen erzielen und kräftiger zuschlagen können", erklärt Gressel. Ausserdem seien die Eisenbahnverbindungen besser.
Russen sind mit Gelände vertraut
"Um Kiew herum musste man sehr lange Versorgungswege auf Strassen zurücklegen, teilweise mussten Behelfsbrücken und -strassen gebaut werden", weiss Gressel. Im Donbass sei es nun logistisch einfacher, Güter wie Artilleriemunition heranzubringen. "Die Russen sind hier generell mit der Lage und dem Gelände besser vertraut", ergänzt er.
Nach westlichen Einschätzungen könnte ein russischer Angriff von Norden aus Richtung Charkiw und Isjum erfolgen. Zuletzt zeigten Satellitenbilder vor Isjum einen kilometerlangen Konvoi mit Fahrzeugen zur Unterstützung von Infanterie, Kampfhubschrauber und Kommandostellen, wie ein Pentagon-Vertreter mitteilte. Ein zweiter Zangenangriff könnte von Süden erfolgen.
Kreml rechnet mit längeren Zeiträumen
Gressel ist sich sicher: "Das Konzentrieren auf die Ostukraine heisst nicht, dass dieser Krieg nicht mehr die gesamte Besetzung der Ukraine als Ziel hat. Es zeigt nur, dass die Russen mit längeren Zeiträumen rechnen."
Der Kreml halte daran fest, dass die Ukraine vernichtet, zum russischen Satellitenstaat werden und "entukrainisiert" werden müsse. Gressel sieht ein weiteres Indiz dafür: Die russische Reaktion auf den Besuch der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der Ukraine, bei dem sie einen schnellen EU-Beitritt in Aussicht gestellt hatte.
Festhalten an Kriegszielen
"Russland hat gar nicht darauf reagiert. Das spricht dafür, dass Moskau damit rechnet, dass man diese Frage ohnehin militärisch löst", meint Gressel. Für Russland sei das politische Gerede über einen EU-Beitritt hinfällig, weil man es die Ukraine ohnehin militärisch unterwerfen und besetzen wolle.
"Wenn Russland damit rechnen würde, dass die Ukraine am Ende des Krieges als selbstständiger Staat übrigbleibt, selbst in kleinerer Form, würde es jetzt scharf protestieren", so der Experte. Er rechnet nach der Ostukraine deshalb mit einem schrittweisen Vorgehen der russischen Armee.
Vorgehen mit Vorschlaghammer
"Der nächste Schlag könnte Charkiw sein, dann Odessa. Dann über den Dnepr von unten nach Süden hinauf. Dann wären Kiew sowie die Zentral- und Westukraine an der Reihe", mutmasst er. Russland werde nun Stück für Stück mit dem Vorschlaghammer vorgehen – auch, wenn das langsamer sei.
"Russland versucht jetzt Kräfte freizumachen, wo es nur geht. Zu den frischen Kräften zählen zum Beispiel Angeworbene, die im April letzten Jahres in die Armee eingerückt sind", so Gressel. Die Truppen, die vor Kiew kämpften, formierten sich in Belarus derzeit neu. "Sie brauchen neues Gerät und müssen neu organisiert werden. Sie dürften eher später ins Gefecht geschickt werden", schätzt Gressel.
Abnutzungsverhältnis entscheidend
Wie lange Russland weiterhin durchhalten könne, hänge stark davon ab, wie die Ukraine nun die Angriffe abwehren und den Russen Verluste zufügen werde. "Bisher hat die Ukraine ein sehr hohes Abnutzungsverhältnis erzielt. Das versucht Russland jetzt unter Kontrolle zu bekommen", sagt Gressel.
Gelinge das nicht, habe Russland ein echtes Problem. "Wenn sich die russischen Planungen aber bewahrheiten und das Verhältnis sich zu ihren Gunsten ändert, dann hat Russland die Chance, durch diese Offensive und die nächsten Offensiven die Ukraine entscheidend abzunutzen und aus dem Krieg zu zwingen", warnt Gressel.
Verwendete Quellen:
- The Guardian.com: Luhansk residents told to evacuate as Russia moves focus to east Ukraine
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