Bei einem russischen Angriff auf einen Baumarkt in Charkiw sind mindestens 14 Menschen gestorben. Selenskyj sieht darin eine Manifestation des russischen Wahnsinns. Die Lage im Überblick.
Bei einem russischen Angriff auf einen Baumarkt in der Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine sind mindestens 14 Menschen getötet worden. "Die Zahl der Toten ist auf 14 gestiegen", erklärte der Gouverneur der Region Charkiw, Oleh Synegubow, am Sonntag bei Telegram. Der ukrainische Innenminister Ihor Klymenko hatte zuvor zwölf Tote, 43 Verletzte und 16 Vermisste gemeldet.
Die Lösch- und Bergungsarbeiten dauerten auch in der Nacht an, mittlerweile ist das Feuer gelöscht. Die Löscharbeiten hätten laut Klymenko mehr als 16 Stunden in Anspruch genommen.
Russland hatte am Samstag die Grossstadt im Nordosten der Ukraine aus der Luft angegriffen. Mindestens eine der Gleitbomben explodierte in dem gut besuchten Baumarkt. Zur Zeit der Attacke befanden sich dort rund 200 Menschen. Während das russische Militär später behauptete, in dem Kaufhaus sei ein Waffenlager versteckt gewesen, verurteilte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Angriff als "eine weitere Manifestation des russischen Wahnsinns".
Grosse Anzahl von Vermissten
Erste Videobilder zeigten dichte Rauchwolken über dem teilweise eingestürzten Baumarkt, vor dem Feuerwehrleute sich bemühten, den Brand zu löschen. "Wir haben eine grosse Anzahl von Vermissten", schrieb Charkiws Bürgermeister Ihor Terechow auf Telegram. Von 16 Menschen fehlte bis zum späten Abend jede Spur, berichtete die Agentur Unian.
Die Staatsanwaltschaft in Charkiw sprach von einem Luftangriff. Sprecher Dmytro Tschubenko erklärte, dass bei den Explosionen hochgiftige Materialien in Brand geraten seien. "Es entwickelte sich ein starker, beissender Rauch, der das gesamte grosse Einkaufszentrum einhüllte. Infolgedessen wird sich die Zahl der Toten und Verletzten wahrscheinlich erhöhen", sagte er der Agentur Unian.
Der französische Präsident Emmanuel Macron verurteilte den Angriff auf das Einkaufszentrum. "Das ist inakzeptabel. Frankreich teilt die Trauer der Ukrainer und steht weiter voll an ihrer Seite", schrieb er auf der Plattform X.
Russlands Ziele vor allem im Westen der Ukraine
Später schrieb Militärverwalter Oleh Synjehubow, dass Kupjansk in der Region Charkiw von einem russischen Raketenwerfer getroffen worden sei - dabei seien fünf Bewohner verletzt worden. Auch das Zentrum von Charkiw wurde am Abend von neuen russischen Angriffen erschüttert. Dabei wurden nach Synjehubows Angaben 18 Menschen verletzt.
Die Ziele schienen demnach vor allem im Westen des Landes zu liegen. Explosionen wurden aus dem Gebiet Chmelnyzkyj gemeldet, dort liegt auch die wichtige ukrainische Luftwaffenbasis Starokostjantyniw. Im Gebiet Winnyzja wurde nach Angaben der Regionalverwaltung ein Wohnhaus getroffen. Auch die Region Lwiw an der Grenze zu Polen wurde angegriffen, wie der Bürgermeister von Lwiw, Andrij Sadowyj, auf Telegram schrieb. Eine Übersicht über Schäden und mögliche Opfer gab es in der Nacht nicht. Auch in der Nähe der Hauptstadt Kiew sei eine Explosion zu hören gewesen, berichtete der öffentliche Rundfunk Suspilne. In Kiew suchten wie immer bei Luftalarm viele Menschen in der U-Bahn und anderen Bunkern Schutz.
Russland bombardierte die Ukraine nach Kiewer Militärangaben auch in der Nacht auf Sonntag mit Raketen, Marschflugkörpern und Kampfdrohnen aus der Luft. Dabei kamen auch Hyperschallraketen vom Typ Kinschal zum Einsatz, wie die ukrainische Luftwaffe auf ihrem Telegramkanal mitteilte.
Selenskyj bittet erneut um Flugabwehrsysteme
Selenskyj erneuerte den Ruf nach mehr Flugabwehrsystemen für sein Land. "Hätte die Ukraine genügend Flugabwehrsysteme und moderne Kampfflugzeuge, wären russische Angriffe wie dieser unmöglich." An die Unterstützer der Ukraine richtete er auf der Plattform X den Appell: "Wir brauchen eine bedeutende Verstärkung der Flugabwehr und ausreichende Möglichkeiten, die russischen Terroristen zu vernichten."
Zwar sei am Samstag ein weiteres russisches Kampfflugzeug vom Typ Su-25 im Osten des Landes abgeschossen worden, erklärte er am Abend in seiner Videoansprache. Aber: "Hätten wir angemessenere, modernere Luftabwehrsysteme und Flugzeuge, wäre die russische Luftwaffe natürlich schon längst genauso zusammengebrochen wie ihre Schwarzmeerflotte." Erst am Freitag hatte Deutschland der Ukraine eine weiteres Flugabwehrsystem Iris-T geliefert. Deutschland hat bereits Luftverteidigungssysteme unter anderem vom Typ IRIS-T und vom Typ Patriot an Kiew geliefert.
Selenskyj hat in den vergangenen Monaten wiederholt um mehr Flugabwehrsysteme gebeten. Vertreter der Nato hatten diese oder zumindest finanzielle Unterstützung für den Ankauf von Systemen auch zugesagt, doch wurde dies bisher - mit Ausnahme in Deutschland - kaum umgesetzt. Nach Selenskyj Berechnungen seien allein für die Region Charkiw zwei Patriot-Flugabwehrsysteme nötig. Die Ukraine wehrt seit mehr als zwei Jahren mit westlicher Unterstützung einen russischen Angriffskrieg ab.
Ukrainischer Angriff auf Belgorod - Vier Tote
Bei einem ukrainischen Raketenangriff auf die südrussische Region Belgorod wurden am Samstag nach offiziellen Angaben drei Menschen getötet. Weitere zwölf Bewohner des Dorfes Oktjabrskij seien bei dem Angriff verletzt worden, sagte Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow nach Angaben der russischen Staatsagentur Tass. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.
CDU-Politiker Kiesewetter plädiert für Luftabwehr über der Westukraine
Derweil plädierte der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter dafür, dass westliche Staaten die Luftabwehr über der Westukraine übernehmen. "Eine Koalition der Willigen könnte ihre eigene Luftabwehr in einem Korridor von 70 bis 100 Kilometern auf das westliche Territorium der Ukraine ausdehnen", sagte der Verteidigungsexperte der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Sonntag). "So würden die Streitkräfte der Ukraine an dieser Stelle entlastet - sie könnten sich auf die Luftverteidigung weiter östlich im Land konzentrieren."
Angesichts der wiederholten russischen Angriffe gegen ukrainische Städte hatte sich der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter dafür ausgesprochen, die Ukraine nicht länger davon abzuhalten, mit westlichen Waffen auch russisches Territorium anzugreifen. "Es geht hier um den Schutz der ukrainischen Bevölkerung. Daher sollten wir die Ukraine nicht daran hindern, mit den gelieferten Waffen russische Kampfjets auch im russischen Luftraum abzuwehren", sagte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die "New York Times" hatte zuletzt berichtet, dass US-Aussenminister Antony Blinken dafür werben will, der Ukraine Schläge gegen russisches Gebiet mit US-Waffen zu ermöglichen. Er wolle Präsident Joe Biden zu einer Aufhebung der Einschränkungen bewegen, hiess es. (dpa/pak)
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