Fast 500 Tage tobt der Krieg in der Ukraine bereits. Die USA wollen Kiew nun in seinem Kampf mit Streumunition unterstützen – die international geächtet ist. In Russland reagiert man empört auf den Schritt, obwohl das Land die Munition selbst einsetzt. Auch aus Deutschland kommt Kritik. Die Lage im Überblick.

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Russland hat die angekündigte US-Lieferung von Streumunition an die Ukraine als weitere Eskalation im Krieg bezeichnet. "Washington erhöht seinen Einsatz in dem Konflikt weiter", sagte der russische Botschafter in den USA, Anatoli Antonow, laut dem Aussenministerium in Moskau in der Nacht zum Samstag.

Auch ohne die Streumunition seien die USA tief in den Konflikt verstrickt und brächten "die Menschheit näher an einen neuen Weltkrieg". Der Einsatz von Streumunition wird nach Darstellung Antonows die Zahl der Kriegsopfer erhöhen und den "Todeskampf des Kiewer Regimes" nur verlängern.

Der Grünen-Politiker Anton Hofreiter kritisierte ebenfalls die geplante Ausrüstung der ukrainischen Armee mit Streumunition. "Die Lieferung von Streumunition lehne ich ab. Sie ist zurecht geächtet", sagte Hofreiter der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag forderte stattdessen die Lieferung deutscher Marschflugkörper an die Ukraine und eine Unterstützung der von Dänemark und den Niederlanden geführten Kampfjet-Allianz mit Logistik und Ausbildung.

Die Bundesregierung hatte am Freitag hingegen Verständnis für die Streumunition-Lieferung signalisiert. Die Streumunition würde von der Ukraine in "einer besonderen Konstellation verwendet", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. "Die Ukraine setzt eine Munition zum Schutz der eigenen Zivilbevölkerung ein. Es geht um einen Einsatz durch die eigene Regierung zur Befreiung des eigenen Territoriums", sagte Hebestreit.

"Wir sollten uns also auch noch mal vergegenwärtigen, dass Russland in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine bereits in grossem Umfang Streumunition eingesetzt hat."

Biden verteidigt Lieferung geächteter Munition

Die US-Regierung hatte am Freitag verkündet der Ukraine umstrittene Streumunition liefern zu wollen. Washington verteidigt sich auch gegen Kritik an diesem Schritt. US-Präsident Joe Biden sprach von einer Übergangslösung und sagte, dass ihm die Entscheidung sehr schwergefallen sei.

Sein Sicherheitsberater Jake Sullivan betonte: "Es ist eine Entscheidung, die wir aufgeschoben haben." Die Ankündigung kommt kurz vor dem Nato-Gipfel in der kommenden Woche.

Samstag ist der 500. Kriegstag, nachdem russische Truppen am 24. Februar 2022 die Ukraine überfallen hatten. UN-Menschenrechtsexperten in der Ukraine dokumentierten seitdem bis 30. Juni 2023 genau 15.993 Verletzungen und 9.177 Todesfälle von Zivilisten.

Die UN zählen nur Fälle, die sie unabhängig bestätigen konnten. Die Opferzahlen seien im Frühjahr zunächst etwas zurückgegangen, im Mai und Juni aber wieder gestiegen, hiess es.

Streumunition könnte für Zivilisten zur Gefahr werden

In einem am Freitag ausgestrahlten Interviewausschnitt mit dem US-Sender CNN betonte Biden, er habe über die Lieferung von Streumunition mit Verbündeten und Mitgliedern des US-Kongresses gesprochen.

Die USA seien - anders als Deutschland - zwar keine Unterzeichner des Vertrags zur Ächtung von Streumunition, dennoch habe es eine Weile gedauert, bis er überzeugt gewesen sei, die umstrittene Munition zu liefern. Die Ukraine benötige die Streumunition im Kampf gegen Russland.

Die Streumunition ist Teil eines neuen US-Militärhilfe-Pakets in Höhe von 800 Millionen US-Dollar (rund 729 Mio Euro). "Russland hat seit Beginn des Krieges Streumunition eingesetzt, um die Ukraine anzugreifen", betonte Sullivan.

"Wir sind uns bewusst, dass Streumunition das Risiko birgt, dass Zivilisten durch nicht explodierte Munition zu Schaden kommen. Deshalb haben wir die Entscheidung so lange aufgeschoben, wie wir konnten." Die Ukraine habe sich zu Minenräumungsmassnahmen verpflichtet, um möglichen Schaden für die Zivilbevölkerung zu mindern.

Selenskyj dankt den USA

Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj dankte Biden für die neue Militärhilfe. "Ein rechtzeitiges, umfassendes und dringend benötigtes Verteidigungshilfspaket der Vereinigten Staaten", teilte Selenskyj am Freitagabend bei Twitter mit.

Er war in Istanbul zu Gesprächen mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan. Dabei ging es unter anderem um die Fortführung des Getreideabkommens. Selenskyj lobte Washington "für entscheidende Schritte, um die Ukraine dem Sieg über den Feind und die Demokratie dem Sieg über die Diktatur näher zu bringen".

Die Ukraine hatte immer wieder Streumunition gefordert, um die Stellungen russischer Besatzer effektiver zu zerstören.

Unterschiedliche Meinungen über Nato-Beitritt

Vor dem Nato-Gipfel im litauischen Vilnius sagte US-Präsident Biden gegenüber CNN weiter, er glaube nicht, dass die Ukraine "für die Mitgliedschaft in der Nato bereit ist". Es gebe unter den Nato-Mitgliedstaaten noch keine Einigkeit darüber, ob man die Ukraine "jetzt, mitten im Krieg", in das Verteidigungsbündnis aufnehmen solle oder nicht.

Wenn man das täte, sei man auch verpflichtet, jeden Zentimeter des Nato-Territoriums zu verteidigen. Wenn der Krieg dann weiterginge, befänden sich alle Nato-Partner im Krieg.

Kurz zuvor hatte bereits Bidens nationaler Sicherheitsberater Sullivan die Hoffnungen der Ukraine auf einen schnellen Nato-Beitritt gedämpft. Die Ukraine werde als Ergebnis des Gipfels nicht der Nato beitreten, sagte er.

Der türkische Präsident Erdogan dagegen bekundete seine Unterstützung für den Wunsch Kiews. "Die Ukraine hat die Nato-Mitgliedschaft zweifellos verdient", sagte Erdogan am Freitagabend nach seinem Treffen mit Selenskyj.

Innerhalb des Bündnisses gab es bis zuletzt Diskussionen, wie beim Gipfel mit dem Thema umgegangen werden soll. Länder wie Litauen und Polen fordern nach Angaben aus Bündniskreisen, dass das Land die Zusage bekommen sollte, direkt nach einem möglichen Kriegsende aufgenommen zu werden. Andere Länder wie Deutschland wollen solche Versprechen hingegen eigentlich nicht geben.

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der dpa ist allerdings eine Mehrheit der Deutschen dafür, dass die Ukraine früher oder später in die Nato aufgenommen wird.

Rund 42 Prozent sprechen sich in der Umfrage aber dafür aus, dass dies erst nach dem Ende des russischen Angriffskriegs gegen das Land geschehen sollte. 13 Prozent sind für einen sofortigen Beitritt während des laufenden Krieges.

29 sind grundsätzlich gegen eine Aufnahme der Ukraine in das Bündnis. Dessen Kern ist der gegenseitige militärische Beistand im Fall eines Angriffs von aussen.

Was am Samstag wichtig wird

Unter dem Eindruck neuer Hilfszusagen aus den USA setzen die ukrainischen Streitkräfte ihre Offensive zur Befreiung der von russischen Truppen besetzten Gebiete fort. Ziel Kiews ist es, nicht nur den Osten und den Süden des Landes zu befreien, sondern auch die Schwarzmeer-Halbinsel Krim, die Russland schon 2014 annektiert hatte. Dabei stossen Kiews Streitkräfte auf massive russische Verteidigungsanlagen, die schwer zu durchbrechen sind. (dpa/thp)

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