- Nur einen Tag nach der Unterzeichnung des verhandelten Getreideabkommens beschiesst Russland die Hafenstadt Odessa.
- Das Entsetzen ist international gross. Aber hat Putin wirklich irrational gehandelt?
- Politikwissenschaftler Tobias Fella warnt vor einer mentalen und physischen Abnutzung.
Mit dem Raketenangriff auf die Hafenstadt Odessa hat Russland die Weltgemeinschaft wieder einmal schockiert. Der Angriff erfolgte am Samstag (23. Juli) - nur einen Tag, nachdem Russland und die Ukraine das Abkommen zur Wiederaufnahme der Getreidelieferungen unterzeichnet hatten.
Präzisionsraketen sollen in den Bereich des Hafens gefeuert worden sein, in dem Getreide für den Export verladen werden. Ein ukrainisches Kriegsschiff soll durch die Kalibr-Marschflugkörper zerstört worden sein, Menschen wurden nicht verletzt.
Krieg in der Ukraine: Glaubwürdigkeit untergraben
Der Kreml hatte den Angriff auf den Hafen am Schwarzen Meer, der wichtig für die weltweite Lebensmittelversorgung ist, zunächst bestritten. Der ukrainische Präsident
In Verhandlungen hatten die UN und die Türkei vermittelt, dass Schiffe für den Export über einen Seekorridor fahren können, ohne beschossen zu werden. Das gilt auch für weitere Häfen in und um Odessa.
Aber war Putins Angriff auf Odessa wirklich so irrational, wie er auf den ersten Blick scheint? Schliesslich hat er seine eigene Glaubwürdigkeit für weitere etwaige Abkommen damit selbst untergraben.
"Putin will Gegner verwirren"
"Nein, der russische Angriff auf die Hafenstadt Odessa passt zu Putins Kriegstaktik", ist sich Politikwissenschaftler Tobias Fella sicher. Er meint: "Der Kremlchef möchte seine Gegner wie schon bei Nord Stream 1 verwirren, und ihnen die Sicherheit nehmen, das russische Handeln zu antizipieren."
Bei den Gaslieferungen durch die Ostseepipeline hatte Putin den Westen zittern lassen: Erst wurden die Lieferungen nach Europa drastisch reduziert, dann mussten sie für Wartungsarbeiten ganz unterbrochen werden. Am Montag liess Putin dann über den russischen Konzern Gazprom mitteilen, dass ab diesem Mittwoch (27. Juli) nur noch 20 Prozent der maximalen Kapazität, also 33 Millionen Kubikmeter Gas täglich, fliessen werden.
Eskalationsdominanz zeigen
"Auf diese Weise will er Eskalationsdominanz demonstrieren und unterstreichen, dass Russland bereit ist, für den Krieg höhere Kosten zu tragen als der Westen, inklusive der Inkaufnahme einer Welternährungskrise", analysiert Fella weiter.
Zusammen mit den neuerlichen Aussagen von Russlands Aussenminister Sergej Lawrow, wonach Russland auf einen Sturz der Regierung in Kiew hinwirke, solle der Westen erkennen, dass es zwecklos sei, die Ukraine zu unterstützen. "Es soll vermittelt werden, dass Moskau stets bereit ist, einen Schritt weiterzugehen als seine Gegner", sagt der Experte.
Kreml verschärft seine Position
In den letzten Tagen hatte der Kreml öffentlich seine Position zu den Kriegszielen in der Ukraine verschärft. Am Sonntag (24.) hatte Lawrow in Kairo gesagt: "Wir helfen dem ukrainischen Volk auf jeden Fall, sich von dem absolut volks- und geschichtsfeindlichen Regime zu befreien". Das russische und ukrainische Volk würden künftig zusammenleben.
Fella sieht in dem Angriff auf Odessa noch ein weiteres Motiv: "Putin sendet das Signal an die Ukrainer und Ukrainerinnen, dass Kiew nicht in der Lage ist, die Sicherheit der Bevölkerung hinter der Front zu garantieren", sagt er. An die ukrainische Regierung und deren Streitkräfte solle die Botschaft gehen, dass ihre Versorgungs- und Kommunikationslinien unter stetiger, russischer Bedrohung stünden.
Odessa liegt im Süden der Ukraine, fast 500 Kilometer von Kiew entfernt. Eigentlich zählt die Hafenstadt nicht zum aktuellen Bereich der russischen Vormarschgebiete, die russischen Truppenbewegungen konzentrieren sich vor allem auf den Osten des Landes.
Eine Eroberung von Odessa ist aber auch gar kein derzeitiges Ziel: "Es geht darum, die Ukraine und ihre Unterstützer und Unterstützerinnen physisch und mental abzunutzen", erklärt Fella. Putin blicke dabei auch auf die westliche Reaktion auf die Raketenangriffe. "Er testet die Einheit und Reaktionen des Westens, um Schwachstellen herauszufinden, um diese dann gegebenenfalls in der Zukunft ausnutzen zu können", schätzt der Experte.
Handelt Putin irrational?
Irrational sei das putinsche Handeln dabei keineswegs. "In der eigenen Logik ist es vernünftig und zweckgeleitet", betont Fella. Der Westen müsse erkennen, dass andere Länder mit anderen Kosten-Nutzen-Kalkülen operieren könnten als er selbst. "Sonst folgt auf eine böse Überraschung die nächste, und es wird aus historischen Erfahrungen nichts gelernt", warnt er.
"Putin ist ein Mann auf einer Mission", erinnert der Experte. Für Europa und die USA müsse das heissen, die Reihen unbedingt geschlossen zu halten. Der Westen müsse stoisch die Ukraine weiter unterstützen und dabei das Risiko einer direkten Konfrontation mit Russland minimieren.
"Die demokratische Welt ist im Kern stärker als die autokratische. Und auch Russland kann sich nicht alles leisten", betont Fella. Russland sei an guten Beziehungen zu Staaten interessiert, die von einer verschärften Welternährungskrise stark betroffen wären.
Der überwiegende Teil der Länder befindet sich in Afrika. Libyen, Ägypten, Somalia, der Libanon und Jemen sind besonders abhängig von Weizen aus Russland und der Ukraine. "Russland braucht Partner oder zumindest Staaten, die den Ukraine-Krieg tolerieren. Insofern nur Mut zum Stoizismus", appelliert Fella.
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