• Nach dem russischen Angriff auf das Atomkraftwerk Saporischschja brach dort ein Brand aus.
  • Der Vorfall weckt Erinnerungen an die Atomkatastrophe von Tschernobyl.
  • Friedrich Merz bringt einen Eingriff der Nato in die Diskussion.
  • Ein Verteidigungsexperte sagt: Das ist kein Bündnisfall. Aber es gibt auch andere Mittel gegen Russland.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen des Autors bzw. des zu Wort kommenden Experten einfliessen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Chmelnyzkyj, Riwne, Saporischschja, Süd-Ukraine: Die Ukraine hat zwar "nur" vier Atomkraftwerke, aber an jedem der Standorte werden mehrere Reaktoren betrieben – 15 insgesamt, sechs davon allein am Standort Saporischschja, wo russische Truppen in der Nacht vom 3. auf 4. März ein Nebengebäude in Brand schossen. Einem Interview zufolge, das der "Spiegel" mit dem ehemaligen ukrainischen Energieminister Jurij Witrenko führte, hätten die "ungebildeten" russischen Soldaten nicht verstanden, dass es zu einer Kettenreaktion kommen könne, wenn Gebäude mit gelagerten Brennstäben angegriffen würden. "In dieser Nacht stand ganz Europa auf der Schwelle zur atomaren Katastrophe", sagte Witrenko dem Magazin.

Saporischschja ist das grösste Atomkraftwerk Europas und besteht aus sechs Druckwasserreaktoren, von denen keiner beschädigt worden sein soll. Glücklicherweise wurde offenbar keine Strahlung freigesetzt. Zwei der Blöcke sind nach Angaben der Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) mit gedrosselter Leistung wieder am Netz. Das ist nicht nur für die Ukraine eine gute Nachricht. Denn Kernreaktoren müssen, auch wenn sie nicht in Betrieb sind, permanent gekühlt werden. Andernfalls kann es zu schweren Schäden bis hin zur Kernschmelze kommen.

Böse Erinnerungen an Tschernobyl 1986

Das Szenario weckt böse Erinnerungen an die Atomkatastrophe von Tschernobyl nahe Kiew im April 1986. Damals kam es nach einem schweren Reaktorunglück tatsächlich zur Kernschmelze, eine hochgiftige radioaktive Wolke zog damals aus der Ukraine kommend über weite Teile von Europa und bis nach Nordamerika. Die nukleare Sperrzone um die Ruine des Kernkraftwerkes haben russische Truppen schon am 24. Februar besetzt.

Eine viel beachtete Reaktion auf den Brand in Saporischschja kam von Friedrich Merz. Für den Fall gezielter russischer Angriffe auf Atomkraftwerke, bei denen auch Reaktorblöcke getroffen würden, sagte der CDU-Chef, müsse die Nato darüber nachdenken, "ob dies nicht einen Angriff auch auf das eigene Territorium darstellt". Indirekt stellte Merz damit die Frage nach dem "Bündnisfall". Dieser ist in Artikel 5 des Nato-Vertrages geregelt und besagt, dass alle Nato-Partner Beistand leisten – und zwar "einschliesslich der Anwendung von Waffengewalt" –, wenn einer der Partner angegriffen wird.

Olaf Scholz: Es gibt keinen Militäreinsatz der Nato

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte die Besetzung des Kraftwerks durch russische Truppen zwar scharf. Doch dass die Nato bei einem ähnlichen oder gar verschärften Szenario wirklich eingreifen würde, ist unwahrscheinlich – im besagten Artikel 5 ist klar vom Fall eines "bewaffneten Angriffs" die Rede, der dem Bündnisfall vorausgehen müsste. Dazu komme, "dass es in der gegenwärtigen Situation kein Nato-Mitgliedsland gibt, das als Kriegspartei eintreten will", betont der Verteidigungsexperte Stefan Scheller. Die einheitliche Interessenlage im westlichen Militärbündnis sei es, "als Nato nicht in den Konflikt hineingezogen zu werden." Gleichzeitig könne man davon ausgehen, dass auch Russland kein Interesse daran habe, "dass bei den Atomkraftwerken radioaktive Strahlung austritt." Grund für die Besetzung von Atommeilern sei das Ziel Russlands, "die Stromversorgung der Ukraine zu lahmzulegen". Mittlerweile hat Bundeskanzler Olaf Scholz dem CDU-Chef scharf widersprochen – ein Militäreinsatz komme "in keinster Weise" infrage, sagte er bei einem Bundeswehr-Besuch in Brandenburg.

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Ein weiteres AKW ist bedroht

Zur Deeskalation scheint im Fall der Atomkraftwerke sogar Russland bereit. Nachdem am Freitag die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) rasche Verhandlungen für die Verhinderung eines Atomunfalls gefordert hatte, sicherte am Montag Michail Uljanow, Botschafter bei den internationalen Organisationen in Wien, die russische Unterstützung für diesen Vorschlag zu. Grund zur Sorge sieht die IAEA, weil das russische Militär offenbar die Kommunikation zwischen dem AKW und ukrainischen Behörden unterbindet.

Am Samstag kam ausserdem eine weitere Bedrohung hinzu: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte in einer Videokonferenz mit US-Senatoren und Abgeordneten, russische Truppen bedrohten nun auch das Atomkraftwerk Süd-Ukraine bei der Stadt Juschnoukrajinsk – es ist nach Saporischschja das zweitgrösste der ukrainischen AKW und hat drei Reaktoren.

Eine weitere Eskalation des Konfliktes um Angriffe auf ukrainische Atomkraftwerke scheint also nicht unwahrscheinlich. Doch Stefan Scheller sieht weiterhin wenig Sinn in Diskussionen über einen Eingriff der Nato in den Krieg. Entscheidender, sagt er, wäre "eine abgestimmte Position zwischen den USA, Japan und der Europäischen Union über ein Embargo von Energieträgern aus Russland". In der Tat zeichnen sich in den USA erste Schritte zu einem Öl-Embargo ab. Noch in der laufenden Woche soll der Kongress einen entsprechenden Vorstoss beraten.

Käme es zu einem Öl-Embargo der USA, sollten die Europäer mitziehen. Denn "ein Öl-Embargo schadet dem Kreml mehr als ein Gasembargo und die europäische Wirtschaft verkraftet einen Bann russischen Gases viel schwerer", meint der Verteidigungsexperte. Wichtig dabei sei vor allem, "dass es die westliche Welt gemeinsam tut." Ein solches Vorgehen, so, Scheller, würde auch ein deutliches Zeichen der Geschlossenheit senden.

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Verwendete Quelle:

  • Der Nordatlantikvertrag, Washington DC, 4. April 1949, Last updated 25-Mar-2019 10:28.
Über den Experten:
Stefan Scheller ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Aussenpolitik (DGAP).
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