- Die Ansprache von Russlands Präsident Wladimir Putin ist eine Kampfansage gegen die Ukraine gewesen.
- Nach acht Jahren Krieg im Nachbarland schuf er nun Fakten.
- Wir erklären, was hinter dem Vorgehen des Kremlchefs steckt, welche Folgen die Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk hat und und was an Putins Vorwürfen gegen die NATO dran ist.
Mit einer Fernsehansprache und ein paar Unterschriften hat Russland am Montag Europas Friedensordnung und alle diplomatischen Bemühungen des Westens über den Haufen geworfen. Der russische Präsident
Vorangegangen waren dem etliche unbelegte Eilmeldungen der Staatsmedien über angebliche ukrainische Attacken sowie eine Darbietung des russischen Sicherheitsrates, die Putin inhaltlich den Weg ebneten. In seiner fast einstündigen Rede am Abend bog sich der Kremlchef dann die Geschichte zurecht, die Basis für sein Vorgehen gegen die Ukraine. Die Kernaussage: Die Ukraine sei russisches Gebiet, die demokratisch gewählte Regierung in Kiew ein Regime, das widerrechtlich die Macht ergriffen hat.
Das ist nichts anderes als eine Kampfansage an das Nachbarland, welches Putin euphemistisch als Brudervolk bezeichnet. Was will der Kremlchef? Welche Folgen hat sein Vorgehen? Und was ist an seinen Vorwürfen gegen die NATO dran? Wir klären diese und weitere zentralen Fragen.
Warum hat Russland die beiden selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkannt?
Putin hat nach seiner Fernsehansprache zwei Dekrete unterzeichnet: ein Freundschafts- und ein Hilfsabkommen. Damit erkannte er die selbsterklärten "Volksrepubliken" Donezk (kurz DNR) und Luhansk (LNR) an, das Parlament ratifizierte die Abkommen am Dienstag. Die Vereinbarung hat zunächst über zehn Jahre Bestand, mit der Möglichkeit einer automatischen Verlängerung.
Die Entscheidung sei "längst überfällig" gewesen, sagte der 69-Jährige in seiner Ansprache. Die Sicht des Kremls: Er befreit die Ukraine von einem ausländischen Besatzer, wahlweise westliche Geheimdienste oder Nichtregierungsorganisationen. Tatsächlich ist der Schritt wenig überraschend. Russland hat die beiden Gebiete von Anfang an unter Kontrolle und schleichend annektiert.
Seit Beginn des Krieges im Donbas 2014 halten sich russische Soldaten verdeckt in den Separatisten-Gebieten auf. Löhne, Gehälter und Renten werden längst mit russischem Rubel gezahlt, die Schlüsselindustrien werden von einem kremlnahen russischen Oligarchen kontrolliert und Hunderttausende Bewohner haben bereits russische Pässe erhalten. Sie durften sogar Sozialleistungen in Russland beantragen und dort wählen gehen. Die jetzige Anerkennung bestätigt letztendlich offiziell die Fakten, die Moskau in den letzten Jahren im Donbas nach und nach geschaffen hat.
Zugleich erhöht Putin den Druck auf die Regierung in Kiew: Eine Reintegration der Gebiete in den ukrainischen Staat, wie sie das Minsker Abkommen vorsieht, ist mit den jüngsten Schritten bis auf Weiteres ausgeschlossen. Jegliche (zarten) Bemühungen der Ukraine diesbezüglich, beispielsweise durch grosszügige Autonomierechte oder einen anderen Sonderstatus, sind gestoppt. Letztendlich verhindert Russlands Staatschef eine Westintegration der Ukraine und minimiert weiter die sowieso kleinen Beitrittschancen des Landes zur NATO und zur EU.
Welche Folgen hat die Anerkennung der Separatistengebiete?
Die Abkommen sehen die Entsendung "russischer Militäreinheiten vor, die zur Aufrechterhaltung des Friedens in der Region und zur Gewährleistung einer dauerhaften Sicherheit für die Parteien erforderlich sind". Die Abkommen beinhalten ebenfalls eine "gegenseitige Unterstützung" im Fall eines "Angriffs" sowie den "gemeinsamen Schutz" der Grenzen – damit hat Putin alle Möglichkeiten in der Hand.
Die Gewalt zwischen ukrainischen Truppen und den von Russland unterstützten Separatisten hatte in den vergangenen Tagen deutlich zugenommen. Putin forderte von der Ukraine die "sofortige" Einstellung aller militärischen Aktivitäten im Osten des Landes. Er warf Kiew erneut vor, in der Ostukraine einen "Genozid" an der russischen Bevölkerung zu begehen und in den Besitz von Atomwaffen gelangen zu wollen – Beweise für diese Behauptungen blieb der Kremlchef schuldig.
"Im Moment" plane Moskau keine Entsendung eigener Truppen in die Ostukraine, russische Soldaten seien laut Putins Sprecher Dmitri Peskow noch nicht dort. Kremlnahe Medien berichten hingegen über den Einzug von gepanzerten Fahrzeugkolonnen. Es wäre das zweite mal nach der Krim-Annexion 2014, dass Russland offen in die Ukraine einmarschiert. Moskau hat nach westlichen Angaben etwa 150.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Ein baldiges Vorrücken in die Ostukraine wäre daher leicht möglich.
Über ein entscheidendes Detail der Abkommen herrschte aber am Dienstag noch Unklarheit: Um welche Gebiete geht es eigentlich? Lediglich die von der Separatisten kontrollierten "Volksrepubliken", die das Gebiet zwischen den Metropolen Donezk sowie Luhansk und der russischen Grenze umfassen, oder die gesamten ukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk? Letztere sind nicht nur um etwa zwei Drittel grösserer als die DNR und LNR, sondern umfassen unter anderem auch die strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer. Ein Anspruch Russlands (oder der "Volksrepubliken") darauf wäre eine Kriegserklärung an die Ukraine.
Augenfällig ist, dass die Vereinbarungen mit der DNR und der LNR fast identisch mit den Verträgen sind, die Russland 2008 mit den von Georgien abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien abschloss.
Welche Parallelen gibt es zu Abchasien und Südossetien?
Vorbild der Vereinbarungen mit der DNR und der LNR sind offensichtlich Abchasien und Südossetien. Im August 2008 löst der fünftägige Krieg zwischen Russland und Georgien die bis dahin schwerste Krise zwischen Ost und West seit Ende des Kalten Krieges aus.
Georgien verlor dabei endgültig die beiden Provinzen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatten sich Anfang der 1990er Jahre beide von Georgien losgesagt, danach kam es mehrfach zu bewaffneten Konflikten. Die abtrünnigen Regionen sind weiter von Russland abhängig, das ihre staatliche Souveränität anerkannt hat. EU und USA sehen die Gebiete aber weiter als Teil Georgiens an.
Wie auch im Fall von Abchasien und Südossetien haben nur einige enge Verbündete Russlands die Souveränität der Gebiete anerkannt. Im Falle der beiden "Volksrepubliken" in der Ostukraine wird dies ähnlich sein. Bisher hat dafür lediglich Syrien seine Bereitschaft erklärt, wie "Al Jazeera" berichtet.
In Abchasien und Südossetien sind seit 2008 russische "Friedenstruppen" stationiert. Putin hat bereits die Entsendung russischer Truppen zum "Friedenserhalt" in die ostukrainischen Separatisten-Gebiete verkündet.
Was steckt hinter Putins Vorwürfen gegen die NATO?
Die über die Jahre erfolgte Ausdehnung des westlichen Militärbündnisses NATO in die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes beunruhigen Putin nach eigener Aussage sehr. In seiner Ansprache warf er der NATO Täuschung vor: Russland sei zu Sowjetzeiten bei der Wiedervereinigung Deutschlands versprochen worden, dass die NATO sich kein bisschen nach Osten ausdehne.
Als es bei den damaligen Gesprächen um eine NATO-Erweiterung nach "Osten" ging, war damit allerdings nach Meinung vieler Historiker nicht Osteuropa gemeint, sondern nur Ostdeutschland. Denn 1989/90 schien ein Ende des Warschauer Paktes (und eine Eigenständigkeit der mittel- und osteuropäischen Staaten sowie der Sowjetrepubliken) unrealistisch. Jegliche Überlegungen über eine NATO-Osterweiterung hätten die Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung unnötig belastet und womöglich sogar zum Scheitern gebracht. Diese Darstellung bestätigte 2014 auch Michail Gorbatschow.
Zugleich warf Putin der NATO vor, Russland wie einen Feind zu behandeln. Fakt ist auch hier: Die NATO hat Russland seit dem Ende der Sowjetunion immer wieder versucht einzubinden, seit 1991 arbeiteten beide in Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zusammen, seit 1997 existiert der NATO-Russland-Rat. Die NATO sagt: "Keinem anderen Partner wurde eine vergleichbare Beziehung angeboten."
Putin hatte zuletzt auch mehrfach vor einer Aufnahme der Ukraine in die NATO gewarnt – obwohl deren Aufnahme in das Militärbündnis überhaupt nicht zur Debatte steht.
Nun fordert Putin sogar die Rücknahme der NATO-Osterweiterung und betont, mit einer möglichen Aufnahme der Ukraine wäre seine rote Linie definitiv überschritten. Beobachter sehen darin Rachegelüste, gepaart mit dem Wunsch, die Zeit zurückzudrehen. Es ist auch ein passender Vorwand, um das aggressive Vorgehen gegen den Nachbarn zu begründen. So war das Thema NATO in den ersten dreissig Minuten von Putins Ansprache überhaupt kein Thema.
Ist das Minsker Abkommen Geschichte?
Ja. Die Vereinbarung vom Februar 2015 sollte die Lage in der Ostukraine eigentlich beruhigen. Zwar wurden im Zuge des Friedensplans mehrfach Hunderte Gefangene ausgetauscht. Doch tatsächlich wurde das Abkommen teils weit über Tausend Mal allein an einem Tag gebrochen – von beiden Seiten. Russlands Anerkennung der "Volksrepubliken" macht nun aber die getroffenen Beschlüsse endgültig gegenstandslos.
Moskau selbst sieht das anders. Das russische Aussenministerium behauptete am Dienstag, die Ukraine selbst habe sich "praktisch" aus den Minsker Abkommen zurückgezogen. Man selbst habe in der Vergangenheit alles versucht, um sicherzustellen, dass die Minsker Vereinbarungen umgesetzt werden.
Wie geht es nun weiter?
Russland beteuerte, noch "offen für Diplomatie" zu sein, wie der russische UN-Botschafter Wassili Nebensia am Montagabend bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates in New York betonte.
So ist Russland nach Kremlangaben bereit zu einem Krisengipfel im Ukraine-Konflikt unter Vermittlung Deutschlands und Frankreichs. Ein hypothetischer Gipfel im Vierer-Format der Normandie-Gruppe könne sich um eine gewaltfreie Lösung des Konflikts drehen, sagte Kremlsprecher Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge am Dienstag in Moskau.
Zudem ist der russische Aussenminister Sergej Lawrow weiterhin zu Gesprächen mit US-Aussenminister Antony Blinken bereit. "Selbst in den schwierigsten Momenten sagen wir: Wir sind zu Verhandlungen bereit", erklärte die Sprecherin des Aussenministeriums, Maria Sacharowa, am Dienstag auf YouTube. Lawrow und Blinken sollten ursprünglich am Donnerstag in Genf persönlich zu einem Gespräch zusammenkommen.
Verwendete Quellen:
- Reuters: "Extracts from Putin's speech on Ukraine"
- Neue Zürcher Zeitung: "Die Nato habe versprochen, sich nicht nach Osten auszudehnen, sagt Putin – stimmt das?"
- Al Jazeera: "Syria backs Russian recognition of east Ukraine breakaway regions"
- Die Zeit: "Gorbatschow sieht in Nato-Osterweiterung keinen Wortbruch"
- Nachrichtenmeldungen der Deutschen Presse-Agentur und von AFP
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