Die russische Armee zwingt ukrainische Zivilisten, gegen ihre eigenen Landsleute zu kämpfen. Doch in den besetzten Gebieten regt sich Widerstand. Ein Partisan der Gruppe Atesh erzählt von seiner gefährlichen und geheimen Arbeit im Kampf gegen das russische Regime.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wir sollen ihn Dzhokhar nennen. Ein Deckname, der seine Identität schützt. Denn sollte ans Licht kommen, wer er ist, ist er, ist seine Gruppe, ist seine Mission gefährdet. Er und seine Kameraden agieren im Geheimen. Aus ukrainischen Gebieten in den Regionen Cherson, Saporischschja oder der Krim – alle von Russland besetzt.

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Und Dzhokhar mittendrin. Ehemals normale Leute, Zivilisten. Heute Agenten, die versuchen, die russischen Besatzer zu untergraben. Ihnen Informationen zu entlocken. Sie, wie Dzhokhar sagt, zu vernichten.

Russland zwingt Ukrainer, gegen Ukrainer zu kämpfen

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nicht nur auf dem Schlachtfeld brutal, sondern auch in den besetzten Gebieten. Während die Frontlinien oft nur um Meter verschoben werden, kämpft Moskau mit einem anderen Problem: dem Mangel an Soldaten. Doch anstatt diesen mit Freiwilligen zu füllen, setzt das russische Regime zunehmend auf Zwang.

Offenbar schickt Russland auch zwangsrekrutierte Ukrainer an die Front. Bereits seit Beginn des Krieges gibt es Berichte darüber, auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch informierte 2023 darüber und sprach in diesem Zusammenhang von Kriegsverbrechen.

Berichten zufolge versprachen die Russen, dass die Wehrpflichtigen nicht an die Front in der Ukraine geschickt würden. Geglaubt hatte dies allerdings niemand, heisst es etwa in einem Beitrag der "Kyiv Post".

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Stiller Kampf von innen

Besonders perfide: Auch ukrainische Gefangene werden mit Drohungen, Propaganda und unmenschlichen Haftbedingungen zur Rekrutierung gedrängt. Ein ehemaliger Häftling berichtet der Menschenrechtsorganisation, wie er in eine eiskalte, überfüllte Zelle mit Tuberkulose-Kranken gesteckt wurde, um seinen Widerstand zu brechen. Andere sprechen von direkter Folter und Einschüchterung.

Der ukrainische Bürgermeister von Melitopol, Iwan Fedorow, bestätigte gegenüber Human Rights Watch, dass russische Besatzer Unternehmen verpflichtet haben, ihre Mitarbeiterlisten an die Militärbehörden weiterzugeben – offenbar, um weitere Rekruten zu erfassen.

Doch nicht nur Human Rights Watch dokumentiert diese Praktiken. Die ukrainische Widerstandsgruppe Atesh hat ebenfalls Beweise gesammelt. Die Gruppe, in der Dzhokhar tätig ist. Sie kämpfen still, von innen heraus.

Atesh ist eine militärische Partisanengruppe, die in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine und auch auf russischem Territorium aktiv ist. Sie wurde im September 2022 von Ukrainern und Krimtataren gegründet: als Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine. Über E-Mail hat unsere Redaktion Kontakt zu Dzhokhar aufbauen können.

Ukrainer sollen sterben, bevor Russen sterben

Ateshs Ursprünge, erklärt der Ukrainer, reichen bis in die frühen Besetzungsphasen der Krim im Jahr 2014 zurück. Die Gründer leisteten damals schon Widerstand gegen die russische Besatzung, wenn auch zunächst überwiegend gewaltfrei. Doch mit der zunehmend aggressiven Haltung Russlands und der Mobilmachung durch das Putin-Regime veränderte sich ihre Strategie.

"Als wir erkannten, dass Russland eine vollständige Mobilmachung anordnen würde, nutzten wir die Gelegenheit und schlossen uns freiwillig der russischen Armee an", sagt Dzhokhar. Man wollte die russischen Einheiten von innen heraus untergraben. Doch nicht alle Mitglieder traten freiwillig ein: Einige von ihnen wurden Opfer der russischen Zwangsrekrutierung.

In den von Russland besetzten Gebieten, besonders in den Regionen Luhansk und Donezk, wurde die allgemeine Zwangsrekrutierung zur Norm. "Ihre Pseudorepubliken erklärten eine allgemeine Zwangsrekrutierung und schickten unzählige Ukrainer in den Kampf gegen die Streitkräfte der Ukraine. Sie erlitten die grössten Verluste und wurden als Kanonenfutter eingesetzt", erklärt Dzhokhar.

Heisst übersetzt: Ukrainer wurden an die vorderste Front geschickt, oft als Infanterieeinheiten. Weglaufen, sich weigern – kaum eine Chance. Ihre Funktion war und ist es, zu sterben, bevor Russen sterben.

300.000 Zwangsrekruten allein in Donezk-Region

Auch nach der Besetzung weiterer Gebiete wie Cherson und Saporischschja zeigte sich, wie brutal die russische Militärstrategie war: Menschen wurden unterdrückt und gezwungen, Verträge mit den russischen Streitkräften zu unterschreiben.

Es wurde behauptet, die Bewohner der Regionen Cherson und Saporischschja, die man angeblich von der ukrainischen Regierung befreit habe, würden bereitwillig gegen die "kriminelle" ukrainische Regierung kämpfen. Doch die Realität, sagt der Partisan, war eine andere: "Am Ende wurden fast alle von ihnen vernichtet."

Trotz der brutalen Repression versuchten viele, sich zu wehren. Doch der russische Besatzungsapparat liess nur wenig Raum für Widerstand. Genaue Zahlen, wie viele Ukrainer tatsächlich an die Front geschickt wurden, kann Dzhokhar nicht nennen. Wahrscheinlich, sagt er, kennt sie nicht einmal Russland selbst.

Im Sommer 2023 hatte der ukrainische Militärgeheimdienst von bis zu 60.000 Männern gesprochen, die in den besetzten Gebieten zwangsmobilisiert wurden. Die Zahl ist seitdem noch einmal erheblich gestiegen. Laut ukrainischen Medien wurden im Oktober 2024 allein in der Region Donezk 300.000 Menschen mobilisiert. Diese Zahl basiert auf Informationen des ukrainischen Militärgeheimdienstes sowie auf Recherchen von ukrainischen und internationalen Think Tanks.

Bleibt also die Frage, wie hoch die Gesamtzahl der Mobilisierten ist, wenn hier nur eine von fünf besetzten Regionen betrachtet wurde. Zusätzlich dazu gibt es eine aktuelle Meldung des National Resistance Centers, einer ukrainischen Nichtregierungsorganisation, die auf eine bevorstehende neue Mobilisierungswelle in den besetzten Gebieten hinweist. Russland plant demnach, die hohen Verluste an der Front durch diese Massnahme zu kompensieren.

Erfolgreiche Sabotageakte

Atesh nutzt diese Zwangsrekrutierungen jedoch aus. Dzhokhar spricht von einer wichtigen Erfolgsstrategie: "Von Anfang an haben wir Menschen in russische Streitkräfte eingeschleust." Im Lauf der Zeit habe man auch "externe Agenten" rekrutieren können. Es handelt sich demnach um aktive Soldaten der russischen Armee, die das Putin-Regime ablehnen und sich ein Ende des Krieges wünschen.

Diese Agenten liefern wertvolle Informationen, die direkt an die ukrainischen Verteidigungskräfte weitergegeben werden. Daten etwa über Munitionslager, über Waffen, über Logistikzentren und Lieferketten. Diese Daten fliessen in die Planung von Operationen und führen zu erfolgreichen Sabotageakten.

Aktionen, die Atesh-Agenten auch selbst durchführen: Sie setzen Fahrzeuge in Brand und machen militärische Ausrüstung unbrauchbar, darunter teure Systeme wie Satellitenkommunikationsgeräte und elektronische Kriegsführungseinheiten. Auf Telegram postet die Gruppe regelmässig über ihre Missionen.

Angst, Verfolgungswahn, Adrenalin

Doch wie fühlen sich die Agenten, die solche verdeckten Einsätze durchführen? Nach ihrer Rückkehr von ihren Einsätzen, sagt der Partisan, berichten die Agenten ihren Koordinatoren über die Gefühle, die sie während der Operation erlebt haben.

Sie sprechen in der Regel von Angst. Jeder Einsatz könnte schliesslich der letzte sein. Dzhokhar sagt: "Kurz gesagt, lassen sich ihre Gefühle mit drei Merkmalen beschreiben: Angst, das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, und Adrenalin."

"Es war, als würde mir jemand ständig auf den Rücken schauen. Mein Herz schlug bis zum Hals."

"Agent Eins"

Da wäre zum Beispiel dieser Mann, den die BBC interviewt hat. Sie nennt ihn Agent Eins. Und er berichtet: "Es war, als würde mir jemand ständig auf den Rücken schauen. Mein Herz schlug bis zum Hals." Der Moment, in dem er in einem Gebüsch kauert und heimlich Fotos von russischen Militärs auf der besetzten Krim macht.

Zwei Wochen lang habe er alles in seinem Kopf durchgespielt – die Route, die Absicherung, und was er tun würde, falls er bemerkt würde. Bei jeder Mission ist Präzision entscheidend, und so schiesst er aus verschiedenen Perspektiven, um so viele Details wie möglich zu erfassen.

Doch das Ganze ist ein gefährliches Spiel, bei dem der Tod jederzeit lauern kann. Einmal, erzählt er, habe er plötzlich eine Gruppe russischer Soldaten gesehen, die sich ihm näherten. "Es war der schlimmste Moment", erzählt er der BBC. "Ich kniete mich neben ein Auto und tat so, als hätte ich ein Problem mit dem Rad." Sekunden dehnen sich zu einer Ewigkeit, als er sich in dieser kritischen Situation nur auf seinen Instinkt verlassen konnte. "Wie durch ein Wunder haben sie mich einfach ignoriert", sagt Agent Eins.

Probleme bei der Rekrutierung

Die Agenten von Atesh arbeiten nicht nur in den russischen Streitkräften, sondern auch in militärischen Einrichtungen und an der Front. Ihre Aufgabe ist es, Informationen zu sammeln, die die russischen Truppen schwächen.

Ein Beispiel: ein Drohnenpilot, der auf einem russischen Militärübungsplatz ausgebildet wurde. Er lieferte den ukrainischen Streitkräften wertvolle Daten über die russischen Einheiten. Bilder und Videos lieferte Atesh wieder auf Telegram. Und was passierte?

"Sie wurden vernichtet", sagt Dzhokhar. Weitere erfolgreiche Einsätze fanden Anfang 2025 statt, als Informationen über die Dnepr-Flottille in der Region Cherson zur Zerstörung eines Schiffes führten.

Was die Vorgehensweise der russischen Besatzer betrifft, so zeigt Dzhokhar wenig Verständnis für deren Methoden. Die russische Armee rekrutiere Gefangene, Russen in Not und Menschen, die durch Propaganda beeinflusst wurden.

Doch diese Rekrutierung funktioniere nicht mehr so gut, sagt er. "Selbst hohe Geldsummen locken immer weniger Menschen." Das zeige, dass Russland mit Problemen bei der Rekrutierung zu kämpfen hat, besonders in den besetzten Gebieten.

Die Zwangsrekrutierung von Ukrainern, die gegen ihre eigenen Landsleute kämpfen müssen, sei nur ein weiteres Beispiel für die Kriegsverbrechen der Russischen Föderation. "Aber gibt es überhaupt ein Kriegsverbrechen, das die Russische Föderation noch nicht begangen hat?"

Verwendete Quellen: