- Die Nachricht, dass russische Soldaten das grösste Atomkraftwerk Europas im ukrainischen Saporischschja beschossen und unter ihre Kontrolle gebracht haben, hat Europa schockiert.
- Atomkraftwerke im Krieg ausreichend zu schützen, sei kaum möglich, sagen Experten. Auch wenn Tschernobyl-Vergleiche nicht angebracht seien, sehen sie in Russlands Vorgehen deshalb ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.
Europa wacht am Freitagmorgen mit der Nachricht auf: Das grösste Atomkraftwerk des Kontinents im ukrainischen Saporischschja wurde von russischen Truppen beschossen und brennt. Das Atomkraftwerk, rund 1.900 Kilometer von Berlin entfernt, steht seit dem Vorfall unter russischer Kontrolle. Inzwischen konnte der Brand von Einsatzkräften gelöscht werden, Reaktorblöcke waren nicht betroffen.
Die eindringlichen Worte des Präsidenten
Ukrainische Behörden baten die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) um sofortige Hilfe. Deren Generaldirektor Rafael Mariano Grossi sprach auf einer Pressekonferenz von einer noch nie dagewesenen Situation. Die Lage sei "fragil" und "sehr instabil". Sorge bezüglich der Strahlungswerte bestehe allerdings nicht, fortlaufende Messungen zeigten keine erhöhten Werte.
Expertin: Krieg wird bei Bau von AKWs nicht eingeplant
Osteuropa-Expertin Anna Veronika Wendland sagt: "Atomkraftwerke gehören, wie auch etwa Staudämme oder Chemiewerke, zur verwundbaren Infrastruktur." Sie seien für Zeiten des Friedens gebaut und nicht für Kriege. Während Szenarien wie Erdbeben oder Flugzeugabstürze also bei den Sicherheitsanforderungen eines Atomkraftwerkes berücksichtigt würden, sei ein Krieg nicht eingeplant.
Wendland will nicht verharmlosen, erinnert aber daran: "Das Reaktorgebäude wurde nicht beschossen. Es ging scheinbar nur darum, sich der Anlage zu bemächtigen." Dennoch sei das Schulungszentrum, welches Schauplatz der Schiesserei gewesen sein soll, sehr wertvoll. "Dort befindet sich in der Regel der Kraftwerkssimulator. Wenn ein Wiederaufbau nötig ist, bedeutet das einen grossen Verlust", sagt die Expertin.
Sicherheitsstandards in Deutschland und der Ukraine ähnlich
Die osteuropäischen und deutschen Kernkraftwerke ähnelten sich in vielen Punkten und hätten vergleichbare Sicherheitsstandards. Das betreffe etwa die Sicherheitsauslegung, sprich die Frage, wie viele Sicherheitssysteme in Reserve seien oder wie viele man brauche, um einen Störfall zu beherrschen.
Einen bedeutenden Unterschied gäbe es allerdings: "Der Bereich, in dem man im Atomkraftwerk mit radioaktiven Stoffen umgeht – also dem Reaktorgebäude und dem Hilfsanlagengebäude – wird bei uns in einem kompakten Kontrollbereich gebaut", erklärt die Expertin.
In Osteuropa werde aber beispielsweise die Kühlmittelaufbereitung, also der Bereich, wo auch mit radioaktiven Medien umgegangen wird, in einem separaten Gebäude ausgelagert. "Das gehört zwar auch zum Kontrollbereich, aber Leitungen aus dem Reaktorgebäude führen auf Stelzen über das Gelände", beschreibt Wendland. Solche Schwachstellen vermeide man in Deutschland.
Vergleich mit Tschernobyl nicht angebracht
"Ähnlich wie bei uns stammen die meisten Atomkraftwerke aber aus den 1980er Jahren und es handelt sich konzeptionell wie bei uns um Druckwasserreaktoren", sagt sie. Die Aussage Selenskyjs, es drohe eine "sechsfaches Tschernobyl", hält die Expertin deshalb nicht für haltbar. Die ukrainischen Vertreter hätten zu früh, ohne wirklich gesicherte Fakten zu haben, ein solches Szenario gezeichnet.
Selenskyj hatte bei einer Rede auch behauptet, russische Panzer beschössen die Reaktorblöcke. Die Aussage bewahrheitete sich nicht. "Bei Tschernobyl handelte sich auch um einen ganz anderen Reaktortyp", erinnert Wendland. Beim bislang grössten atomaren Unfall in Europa explodierte im Jahr 1986 ein Reaktor. Dabei starben rund 150 Menschen, in Folge der Strahlung rechnet die WHO mit mehreren tausend zusätzlichen Krebserkrankungen.
Expertin: Dauerbeschuss würde Anlage wohl nicht standhalten
Bei der damaligen Anlage, die heute stillgelegt ist und sich derzeit ebenfalls unter russischer Kontrolle befindet, handelte es sich um einen sogenannten graphitmoderierten Druckröhrent-Reaktor. Dort gab es eine nukleare Leistungsexkursion mit sofortiger Explosion. Das sei in Druckwasserreaktoranlagen anders. "Selbst, wenn man ein Reaktorgebäude beschiesst, gehen vielleicht Anlagenteile kaputt, aber es gibt nicht sofort eine Explosion", meint Wendland.
Einem gezielten Dauerbeschuss würden die Anlagen nicht standhalten, eine Gefahr gehe aber eher von einer abgeschnittenen Stromversorgung aus, die auch ganz ohne Beschuss durch gezielte Massnahmen erreicht werden könnte.
Diese Bedenken äusserte auch die staatliche ukrainische AKW-Betreibergesellschaft "Enerhoatom". Sollte durch die Kämpfe die Stromzufuhr zu einem Kraftwerk abgeschnitten werden, müssten die Nachkühlsysteme mit Dieselgeneratoren betrieben werden. Gibt es hier Störungen und fallen im schlimmsten Fall die Kühlsysteme langfristig aus, heizen sich die Reaktorkerne und Brennstäbe auf. Dann kann es zu Kernschmelzen kommen, bei denen massiv Radioaktivität freigesetzt wird.
Experte: Russland hat "mehrfach rote Linien überschritten"
Herbert Saurugg, Experte für den Ausfall lebenswichtiger Infrastrukturen, hält die wichtigsten Bereiche der ukrainischen Atomkraftwerke für gut geschützt. Wie sicher die Atomkraftwerke in der Ukraine seien, wisse derzeit aber wohl niemand. "Es wurden in den letzten Tagen mehrfach rote Linien überschritten, so etwa auch, dass sich bewaffnete Kräfte im Bereich von Nuklearanlagen aufhalten", sagt er.
Für ein "neues Tschernobyl" müsse nach seiner Einschätzung "schon eine Menge schieflaufen", es sei aber ein riskantes Spiel mit dem Feuer, dass gerade betrieben werde. Nicht nur die Hauptanlagen, auch die anderen Anlagen würden zum Funktionieren der Anlage beitragen. "Damit könnten zeitverzögerte Wirkungen auftreten, die wir generell unterschätzen", meint er.
Ausserdem betrage das Durchschnittsalter der ukrainischen Reaktoren 41 Jahre. "Die technische Lebensdauer wird generell mit etwa 40 Jahre angegeben. Das bedeutet, dass die meisten Anlagen bereits längst ersetzt werden müssten, da ein Neubau sowieso viele Jahre dauert", so Saurugg.
Verzögerung von Wartungsarbeiten zu befürchten
Aus Sicht des Experten geht es auch nicht nur um potenzielle Schäden durch Kampfhandlungen. "Das Betriebspersonal steht unter enormen Stress. Wartungen können nicht ordnungsgemäss durchgeführt werden", erinnert er.
Expertin Wendland sagt: "Der psychologische Effekt solcher Szenarien ist natürlich enorm, Atomenergie triggert sofort." Nuklearenergie als Waffe gehörten zu Putins Drohrepertoire, aber auch die Ukraine wisse, dass sie hier den Westen schnell auf den Plan rufe.
"Die Risikowahrnehmung bei Kernenergie ist im Vergleich zu den tatsächlichen Risiken enorm hoch, während andere Risiken – zum Beispiel bei Chemiewerken – eher unterschätzt werden", sagt Wendland. Bei Chemiewerken befänden sich wesentlich mehr Gefahrstoffe in Tanks, Behältern oder Leitungen, die durch Beschuss relativ schnell freigesetzt werden könnten. Chemiewerke seien in der Ukraine ausserdem wesentlich schlechter abgesichert als Reaktorgebäude.
Expertin schreibt Westen Mitschuld zu
Ohnehin ist sich Wendland sicher: "Verwundbare Infrastruktur im Krieg schützt man nicht durch eine dicke Wand mehr. Wenn jemand lange genug bombt, wird auch diese Wand nicht standhalten." Stattdessen müsse die Art der Kriegsführung geächtet werden und Machthaber wie Putin so isoliert werden, dass sie keine ausreichenden Mittel für solche Taten hätten. "Diese Lehren hat man weder 2008 beim Georgien-Krieg noch 2014 bei der Krim-Annexion gezogen", kritisiert Wendland.
Hätte man die Ukraine abgesichert, ihr die Möglichkeit gegeben, sich gegen Angreifer besser zu rüsten oder sie in die Nato aufgenommen, wäre aus Wendlands Sicht eine solche Situation wie derzeit kaum entstanden. "Man hätte Nordstream 2 nicht bauen dürfen und sich von den russischen Gaslieferungen emanzipieren müssen", betont sie. Russische Panzer seien schliesslich auch mit deutschem Gasgeld finanziert worden.
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