Westliche Politikerinnen und Politiker betonen immer wieder: Die Ukraine muss den Krieg gegen Russland gewinnen. Aber was bedeutet das genau? Der Politikwissenschaftler Thorsten Benner wirbt für Realismus: "Die Ukraine kann auch ohne die unmittelbare Befreiung aller Gebiete ein erfolgreicher Staat sein."
Mehr als zwei Jahre sind seit der russischen Invasion in der Ukraine bisher vergangen. Zunächst haben die ukrainischen Streitkräfte die Aggression zurückgeschlagen, sogar besetzte Gebiete wieder befreit. Doch inzwischen rückt Russland wieder vor, und die dringend benötigte Munition kann der Westen der Ukraine nicht liefern.
Wie könnte der Krieg überhaupt enden oder eingefroren werden? Fragen an Thorsten Benner, Direktor der unabhängigen Denkfabrik "Global Public Policy Institute" in Berlin.
Herr Benner, glauben Sie, dass die Ukraine diesen Krieg noch gewinnen kann?
Thorsten Benner: Der Bundeskanzler drückt das ja immer so aus: Russland darf den Krieg nicht gewinnen und die Ukraine darf ihn nicht verlieren. Vielleicht sollten wir beginnen, ein solches Ergebnis als Sieg zu verstehen. Wenn wir zurückdenken an die ersten Wochen nach Beginn der Invasion vor zwei Jahren: Damals hätte es kaum jemand für möglich gehalten, dass die Ukraine 50 Prozent des von Russland besetzten Territoriums befreien und als souveräner und politisch handlungsfähiger und geeinter Staat weiterbestehen würde.
Bisher ist häufig zu hören: Die Ukraine hat erst gewonnen, wenn sie alle besetzten Gebiete zurückerobert hat.
Ich werbe sehr dafür, dass man den Ausgang des Krieges nicht allein an territorialen Linien bemisst. Aus meiner Sicht lautet die zentrale, nicht nur die Ukraine betreffende Frage im möglicherweise Jahrzehnte dauernden Konflikt mit Moskau: Wie können wir zukünftige Aggression Russlands erfolgreich abschrecken? Denn selbst wenn die Ukraine das gesamte von Russland völkerrechtswidrig besetzte Territorium zurückgewinnen würde, wäre der Kampf nicht zu Ende. So lange ein nationalistisch-revisionistischer Herrscher – egal ob Putin oder ein Nachfolger – im Kreml sitzt, wird dieser alle Grenzen als vorübergehend ansehen. Das gilt für die Ukraine wie für den Rest Mittel- und Osteuropas.
Die Rückeroberung aller besetzten Gebiete halten Sie also für unrealistisch?
Sie wäre wünschenswert und völkerrechtlich geboten. Mir fallen aber momentan wenige Menschen ein, die sie in absehbarer Zeit für realistisch halten. 2024 können wir froh sein, wenn die Ukraine die aktuelle Frontlinie einigermassen halten kann. Das liegt an der Munitionsknappheit, die Europa selbst verschuldet hat. Und es liegt auch an der Tatsache, dass die Ukraine in letzter Konsequenz allein gegen eine Nuklearmacht mit dreifach so grosser Bevölkerung kämpft, für die das Leben des Einzelnen nichts zählt. Putin schickt russische Männer ohne Wimpernzucken schlecht ausgebildet in den Fleischwolf. Gleichzeitig lautet das wichtigste Kriegsziel von US-Präsident Biden, Kanzler Scholz und anderen führenden Nato-Staaten, eine Eskalation zu einem direkten Krieg zwischen Russland und der Nato zu vermeiden und keine eigenen Truppen in die Ukraine zu schicken.
Sie haben in einem Gastbeitrag für den "Tagesspiegel" drei Kriegsziele für die Ukraine skizziert, die sie für realistischer halten als eine Rückeroberung aller besetzten Gebiete. Das sind die Bewahrung der Staatlichkeit, wirtschaftliche Tragfähigkeit und die Abschreckung Russlands.
Die Bewahrung der Staatlichkeit hat der frühere Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, selbst in einem Interview als wichtigstes Ziel ausgegeben. Verbunden mit dem Hinweis: Niemand in der Ukraine will diesen Krieg bis zum letzten Soldaten führen. Für die Ukraine sei das Entscheidende, Staatlichkeit und Selbständigkeit zu bewahren. Die Ukraine muss weiterhin souverän agieren können, sie darf nicht fremdgesteuert werden. Es war ja ein Minimalziel von Putin, in Kiew eine Marionettenregierung an die Macht zu bringen. Das hat er nicht geschafft und das darf auch nicht passieren.
Was braucht es für das zweite Ziel, die wirtschaftliche Tragfähigkeit?
Deutschland richtet im Juni eine Wiederaufbau-Konferenz für die Ukraine aus. Dieser wirtschaftliche Wiederaufbau wird aber nur funktionieren, wenn Investoren Vertrauen in den Standort haben. Und das kann nur entstehen, wenn es eine funktionierende und verlässliche Luftverteidigung für das ganze Land gibt. Am schwierigsten zu erreichen ist aber das dritte Ziel, also die Abschreckung Russlands. Wenn die Kampfhandlungen doch einmal unterbrochen werden, darf es nicht zu weiteren Angriffen Russlands kommen.
Und wie kann das verhindert werden?
Dafür bräuchte die Ukraine Sicherheitsgarantien, also eine weitere militärische Unterstützung des Westens. Es heisst oft, dass die Ukraine und Russland miteinander verhandeln werden müssen. Das stimmt natürlich, aber ein Grossteil der Verhandlungen wird zwischen der Ukraine und den westlichen Ländern nötig sein. Ein ukrainischer Abgeordneter formulierte auf der Münchener Sicherheitskonferenz vor einigen Wochen: Entweder die Ukraine wird Nato-Mitglied oder wir müssen eine eigene nukleare Abschreckung anstreben. In diesem Spannungsfeld wird sich die Debatte um Sicherheitsgarantien abspielen.
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Wenn die Ukraine wirklich auf die unmittelbare Rückeroberung aller besetzten Gebiete verzichten würde – käme das nicht einer Kapitulation vor dem Aggressor Russland gleich?
Wie gesagt: Selbst jemand wie Andrij Melnyk rückt die komplette Befreiung der Gebiete nicht mehr ins Zentrum, sondern pocht auf die Verteidigung der Unabhängigkeit der Ukraine. Er ermutigt die Länder des globalen Südens, nach diplomatischen Lösungen zu suchen. Und Herr Melnyk ist ja nicht als sonderlicher Leisetreter bekannt. Natürlich ist es tragisch und bedrückend, wenn die Ukraine in absehbarer Zeit nicht alle Gebiete befreien kann. Doch die USA und die meisten europäischen Nato-Staaten haben deutlich gemacht, dass sie keine Soldaten und Soldatinnen in die Ukraine schicken wollen. Europa hat die Rüstungsproduktion leider nicht rechtzeitig hochgefahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es ohne Regimekollaps im Kreml kaum möglich, alle Gebiete zu befreien.
Die Frage ist aber, ob die Menschen in der Ukraine bereit sind, auf Teile ihres Landes zu verzichten. Die Chefredakteurin des "Kyiv Independent" hat im Interview mit unserer Redaktion gesagt: Wenn Präsident Wolodymyr Selenskyj Gebiete an Russland abtritt, wird er schnell sein Amt los sein.
Es geht nicht um ein Abtreten von Gebieten. Weder die Ukraine noch die westlichen Unterstützer werden russische Souveränität über ukrainisches Territorium völkerrechtlich anerkennen. Es geht eher um ein Waffenstillstandsabkommen wie nach dem Korea-Krieg 1953, das bis heute nicht in einen Friedensvertrag umgewandelt wurde. Auch das wäre in der Ukraine politisch schwierig. Doch Selenskyj hat schon gesagt, dass er nicht wieder antreten werde nach einem Ende der Kampfhandlungen. Das gibt ihm grösseren politischen Spielraum.
Was wären dann die Aussichten für die Ukraine?
Die amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte hat einmal gesagt, dass die Ukraine das Westdeutschland des 21. Jahrhunderts werden könnte: ein politisches und wirtschaftliches Erfolgsmodell. Der Vergleich hinkt. Trotzdem finde ich den Gedanken wichtig: Die Ukraine kann auch ohne die unmittelbare Befreiung aller Gebiete ein erfolgreicher Staat sein.
Die russische Regierung würde eine eigenständige und erfolgreiche Ukraine vor der eigenen Haustür aber kaum akzeptieren.
Nein, das würde sie nicht. Solange Russland von einer nationalistisch-revisionistischen Regierung angeführt wird – egal ob von Putin oder einem Nachfolger – ist Abschreckung deshalb so wichtig. Wir dürfen uns keine Illusionen machen. Selbst wenn die Ukraine doch alle besetzten Gebiete befreit, herrscht noch nicht nachhaltiger Frieden, weder in der Ukraine noch mit dem Rest Europas. Nicht mit diesem Regime im Kreml.
Was folgt daraus für Europa?
Zunächst einmal: Wir müssen alles unternehmen, um die Ukraine in eine stärkere Position zu versetzen. Die militärische Unterstützung muss mit mehr Artillerie, Luftabwehr und auch Waffen von längerer Reichweite intensiviert werden. Wir müssen uns klar sein, dass die Ukraine – ob formell als Nato-Mitglied oder nicht – die De-facto-Ostflanke der Nato sein wird und eine entsprechende Ausstattung mit westlichen Waffensystemen braucht. Der Rest Europas kann viel von der Erfahrung der ukrainischen Streitkräfte lernen.
Und darüber hinaus?
Wer einen direkten Krieg zwischen Nato und Russland vermeiden will, für den muss gelten: Abschreckung ist die beste Friedenspolitik. Sicherheit lässt sich heute nicht mit, sondern nur gegen Russland organisieren. Und wir müssen Sicherheit nicht nur angesichts einer möglichen zweiten Amtszeit Trumps auch zunehmend ohne die USA organisieren. Nur wenn wir massiv in militärische Verteidigungsfähigkeit und in die gesamtgesellschaftliche Wehrhaftigkeit investieren, können wir eine Ausweitung des Kriegs mit Russland über die Ukraine hinaus vermeiden. Europa ist mittelfristig auch ohne die USA wirtschaftlich, technologisch und militärisch stark genug, um gegenüber Russland zu bestehen – aber dafür müssen Deutschland und Europa sich ganz anders aufstellen, auch fiskalpolitisch. Stichwort Schuldenbremse und Steuererhöhungen für Wohlhabende.
Ist Europa wirklich stark genug? In Deutschland sagen viele Politiker: Ohne die USA kriegen wir das nicht hin.
Mit dem aktuellen Kindergartentheater zwischen Scholz und Macron sicher nicht. Aber haben keine Alternative, wir müssen es versuchen. Aufgeben ist keine Option.
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Über den Gesprächspartner
- Thorsten Benner ist Mitgründer und Direktor der Denkfabrik Global Public Policy Institute in Berlin. Er hat Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie in Siegen, York (Grossbritannien) und Berkeley (USA) sowie Öffentliche Verwaltung an der "Harvard’s Kennedy School of Government" studiert. Er beschäftigt sich unter anderem mit Fragen von Krieg und Frieden und der globalen Ordnung.
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