Nordkoreanische Soldaten sollen Russland offenbar im Krieg gegen die Ukraine unterstützen. Der Schritt birgt auch für Nordkoreas Diktator Kim Jong Un ein Risiko. Warum geht er ihn trotzdem?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Der Westen ist alarmiert: Nachdem die USA und Nato-Verbündete die Präsenz von nordkoreanischen Truppen in Russland bestätigt haben, warnt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor einem Dritten Weltkrieg und spricht von einer neuen Kriegspartei.

Mehr News zum Krieg in der Ukraine

Schon seit mehreren Tagen hatte es Gerüchte gegeben, dass Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Soldaten zur Hilfe eilen könnte. Zuerst hatte der südkoreanische Geheimdienst NIS darüber berichtet. 3.000 nordkoreanische Soldaten sollen demnach bereits nach Russland gebracht worden sein, bis Dezember könnten es insgesamt 10.000 sein.

Der amerikanische Aussenminister Lloyd Austin sprach von einem "sehr, sehr ernsten Problem", sollte sich Nordkorea aktiv am Krieg beteiligen. In Berlin bestellte das Auswärtige Amt den nordkoreanischen Geschäftsbeauftragten ein und warnte vor einem Verstoss gegen das Völkerrecht sowie einem Angriff auf die europäische Friedensordnung.

Partnerschaft zwischen Moskau und Pjöngjang

Dabei kommt die Entsendung der nordkoreanischen Soldaten eigentlich mit Ansage: Die Zusammenarbeit von Russland und Nordkorea ist nichts Neues, sondern hatte sich in letzter Zeit immer weiter intensiviert. Schon seit Kriegsbeginn sind nordkoreanische Waffenlieferungen an Moskau ein Thema, offiziell bestätigt wurden sie allerdings nie.

Im Juni hatten sich Putin und Kim Jong Un getroffen, um eine Sicherheitspartnerschaft zu unterzeichnen. An diesem Donnerstag soll sie auch in der Moskauer Duma ratifiziert werden. Das Abkommen sieht vor, dass sich beide Länder gegenseitig unterstützen, sollte eines von ihnen angegriffen werden. Mit diesem Fall argumentiert nun auch Putin: Ukrainische Truppen sind Anfang August in das Gebiet Kursk in Russland einmarschiert. Putin wünscht sich deshalb "Verteidigungsbeistand".

Sprache als Hindernis

Die Politikwissenschaftlerin Tereza Novotna arbeitet an der Freien Universität Berlin und beschäftigt sich unter anderem mit Korea. Sie beobachtet die Entwicklung mit grosser Sorge. "Es bleibt allerdings die Frage, um was für Soldaten es sich genau handelt, wie viele es am Ende sind und was sie tun werden", sagt die Expertin. Sie könne sich vorstellen, dass es sich bei einem Teil der nordkoreanischen Soldaten um ehemalige Arbeiter aus den sibirischen Wäldern handele, die während der Corona-Pandemie nicht in ihr Heimatland zurückkehren konnten.

Es sei jedenfalls noch nicht ausgemacht, dass sie Seite an Seite mit russischen Soldaten in der Ukraine kämpfen würden. "Darunter sind sicherlich ein paar Experten für ballistische Raketen, die die Russen in der Bedienung schulen", sagt sie. Auch Bautrupps der nordkoreanischen Streitkräfte sind schon länger im Gespräch.

Die Expertin gibt aber auch zu bedenken: "Die Sprache ist mit Sicherheit ein praktisches Hindernis. Wenn die Nordkoreaner eingesetzt werden sollten, brauchen sie vermutlich eigene Einheiten, denn sie sprechen bestimmt keine Fremdsprache."

Probleme bei der Mobilmachung

Trotzdem hält Novotna einen Einsatz der Soldaten in der Region Kursk für realistisch. "So würden russische Soldaten frei werden", sagt sie. Wenn sich die nordkoreanischen Soldaten nur auf russischem Gebiet aufhalten, sei das auch im Einklang mit dem Vertrag, den beide Länder geschlossen haben.

Russland hat schon seit Längerem massive Probleme mit der Rekrutierung weiterer Kräfte. Immer weniger Männer dürften in Russland bereit sein, ihr Leben aufs Spiel zu setzen – trotz guter Bezahlung. In dem Einsatz nordkoreanischer Soldaten steckt für Russland aber auch ein Risiko: Es könnte als Gesichtsverlust gewertet werden, wenn der Kreml nicht mehr in der Lage ist, ausreichend eigene Männer mobil zu machen.

Präzedenzfall geschaffen

Andererseits fallen 10.000 Soldaten nur wenig ins Gewicht. Schätzungen zufolge ist Russland mit mehreren Hunderttausend Soldaten in der Ukraine im Einsatz und hat bereits über 600.000 Soldaten seit Kriegsbeginn verloren.

"Der Einsatz von nordkoreanischen Soldaten ist aber ein Präzedenzfall. Und eine Frage steht im Raum: Was könnte noch kommen?", erinnert Novotna. Möglicherweise rekrutiere Russland auch Soldaten in Afrika, China, Lateinamerika, wenn die Nato oder der Westen jetzt nicht reagieren. "Ob man bereits jetzt von einer Kriegsbeteiligung spricht, hängt davon ab, ob die nordkoreanischen Soldaten dort offiziell sind und unter nordkoreanischem Kommando", sagt sie.

"Wenn es zum Einsatz der Soldaten kommen sollte, ist in jedem Fall ein neues Niveau erreicht"

Dr. Tereza Novotna

Laut Völkerrechtlern müssen die Soldaten auf nordkoreanischen Befehl handeln und sich unmittelbar an Feindseligkeiten gegenüber der Ukraine beteiligen, um zur Kriegspartei zu werden. Von welchem Boden aus die Soldaten handeln, ist dann irrelevant. Auch, wenn die nordkoreanischen Soldaten vollständig auf russischen Befehl hin handeln, kann Nordkorea gegen das Völkerrecht verstossen. Denn es unterstützt Moskau dabei bei seinem Angriffskrieg.

"Die Situation ist ziemlich gefährlich. Wenn es zum Einsatz der Soldaten kommen sollte, ist in jedem Fall ein neues Niveau erreicht", so Novotna.

Lesen Sie auch

Signal an China

Die Wissenschaftlerin vermutet bei Nordkorea mehrere Motive für den heiklen Schritt. Zum einen wolle die Regierung im Gegenzug für ihre Unterstützung Geld und Technologie, etwa für taktische Atomwaffen und U-Boot-Raketensysteme. Zum anderen könne sie Moskau stärker an sich binden – und in Zukunft eine Gegenleistung erwarten.

Ausserdem gehe an China das Signal: "Wir können uns auch andere Partner suchen." Novotna sagt: "Ich denke, dass China über all diese Entwicklungen nicht besonders erfreut sein dürfte, und glaube auch nicht, dass das mit der chinesischen Führung verabredet ist."

Noch einen Vorteil zieht Kim Jong Un aus dem Schritt: Die Nordkoreaner befinden sich seit den 1950er-Jahren im Kriegszustand, haben aber nie wirklich aktiv in diesem Krieg gekämpft. "Es könnte für Kim Jong Un nützlich sein, wenn seine Soldaten jetzt Kriegs- und Kampferfahrung sammeln", sagt Novotna.

Gleichzeitig hätten Nordkoreaner aber auch bereits Fluchtversuche unternommen. "Darin steckt natürlich auch ein Risiko: Die Nordkoreaner werden mehr Informationen über das Leben ausserhalb ihrer abgeschotteten Welt und über ihren Machthaber bekommen", so die Expertin. Das habe Kim aber scheinbar in Kauf genommen.

Was kann der Westen tun?

Der Handlungsspielraum des Westens scheint derweil ziemlich begrenzt. Ausschlaggebend dürfte die Reaktion der USA sein, die sich aber derzeit kurz vor einer Präsidentschaftswahl befinden. Dass die Nato eigene Soldaten in die Ukraine schickt, gilt als ausgeschlossen. Deutschland hat sich klar dagegen positioniert. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte in der Vergangenheit die Stationierung westlicher Truppen entlang der belarussischen Grenze zwar angeregt, um so ukrainische Soldaten zu entlasten.

Der diplomatische Druck durch den Westen erscheint aber wenig erfolgsversprechend. Schliesslich sind im Zusammenhang mit Nordkoreas Atomprogramm und dem russischen Angriff auf die Ukraine schon die schärfsten Schwerter in Sachen Sanktionen gezogen worden. Das einzige Rad, an dem der Westen damit drehen könnte, wäre die Militärhilfe für die Ukraine.

Über die Gesprächspartnerin

  • Dr. Tereza Novotna hat unter anderem Politik- und Europastudien in Prag studiert und an der "Boston University" promoviert. 2017 bis 2018 arbeitete sie in der südkoreanischen Hauptstadt an der "Seoul National University". Seit 2022 forscht sie am Korea-Europa-Zentrum und am Zentrum für Europäische Integration der Freien Universität Berlin.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.