- In der Ukraine wird weiterhin schwer gekämpft, Geländegewinne machen beide Seiten kaum.
- Die Ursachen dafür sind unterschiedlich: Den Ukrainern mangelt es an Munition und Panzern, auf russischer Seite fehlen Soldaten. Und das trotz der Teilmobilmachung, die nun verdeckt weitergehen könnte.
- Militärexperte Gustav Gressel analysiert den aktuellen Stand des Krieges und warnt eindringlich vor einem Fehler, den der Westen jetzt nicht machen darf.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dauert inzwischen seit über acht Monaten an und die Nachrichten von der Front reissen nicht ab: Zuletzt meldeten sowohl ukrainische als auch russische Behörden schwere Kämpfe im Osten und Süden des Landes. In Luhansk, Donezk und Cherson haben sich Truppen beider Seiten demnach mit schwerer Artillerie beschossen.
Aus Kiew hiess es im Anschluss, Kämpfer hätten in Luhansk und Donezk russische Stellungen zerstört. Moskau meldete hingegen zurückgeschlagene Angriffe.
Bei Sewastopol auf der Krim hatte es in der jüngsten Vergangenheit einen wirksamen Seedrohnenangriff seitens der Ukraine auf die russische Schwarzmeerflotte in deren Kriegshafen gegeben. Durch russischen Beschuss wiederum war das Atomkraftwerk Saporischschja zwischenzeitlich vom Stromnetz getrennt worden und musste streckenweise mit Dieselgeneratoren betrieben werden. Inzwischen sind die Hochspannungsleitungen wieder repariert. Die ukrainische Führung will die Region im Süden des Landes nach ersten Erfolgen noch komplett befreien.
Schwere Kämpfe, keine Geländegewinne
Auch wenn weiterhin intensiv gekämpft wird: Aus Sicht von Beobachtern wird in der Ukraine auf beiden Seiten wenig erreicht. Dabei hatte Russland eigentlich mit seiner sogenannten Teilmobilmachung die Oberhand zurückgewinnen wollen. "Ein Grossteil der mobilisierten Kräfte sind noch im Training. Etwa 50.000 wurden an die Front geschickt, um die wichtigsten Lücken zu schliessen. Etwa 50.000 sind in Russland noch im Training und werden Stück für Stück an die Front verlegt", erklärt Militärexperte Gustav Gressel.
Man könne die Verlegung von militärischem Gerät beobachten. "Ich fürchte aber, dass es dabei nicht bleiben wird", sagt er. Beschwichtigungen, die Mobilmachung höre auf, richteten sich nur an das heimische Publikum. "Damit diejenigen, die noch einberufen werden könnten, im Land bleiben", schätzt Gressel. Es gebe Gerüchte, dass das Verteidigungsministerium plane, mehr Kräfte einzuberufen. Offiziell hat die russische Regierung die Mobilmachung von 300.000 Reservisten für beendet erklärt.
Teilmobilmachung dürfte verdeckt weitergehen
Aber auch die amerikanische Denkfabrik "Institute for the Study of War" (ISW) kommt in einer Analyse zu dem Schluss, dass der Kreml offenbar nicht genug neue Soldaten rekrutieren konnte. Berichten zufolge soll Russland weiter mobilmachen, nun aber verdeckt. Demnach habe Putin Dekrete unterzeichnet, die darauf hindeuten, dass die Mobilmachung weitergeht. Putin zufolge sind bislang 318.000 Männer mobilisiert worden.
Russische Oppositionelle und Online-Medien berichten, dass sich Behörden auf eine zweite Mobilmachungswelle vorbereiteten, etwa durch die Modernisierung von Rekrutierungszentren und dem Erstellen von Listen möglicher Rekruten. Einzelne Männer sollen bereits Einberufungsbescheide für das kommende Jahr erhalten haben.
Schwächen auf beiden Seiten
"Dem würde ich Glauben schenken", sagt Gressel. Auch aus seiner Sicht kann Russland mit der bisherigen personellen Situation die Initiative im Krieg nicht zurückgewinnen und sein ursprüngliches Ziel, die Ukraine als Ganzes zu unterwerfen, nicht erreichen. Angesichts der bestehenden Propaganda, scheine sich an diesem Ziel wiederum nicht viel geändert zu haben.
Gressel rechnet damit, dass es sich nur um eine erste Phase der Mobilmachung handelt. "Sie wird vermutlich noch bis ins Frühjahr andauern", sagt der Experte. Im Frühjahr könnte dann der Versuch erfolgen, gross angelegte Offensiven wieder aufzunehmen. "Gerade sind wir in einer Schwäche-Phase der Russen und die Ukraine versucht, so viele Geländegewinne zu machen, wie möglich und gute Stellungen zu halten", zeigt Gressel auf.
Der Ukraine fehlen Munition und Panzer
Doch ein leichtes Spiel ist das auch für die ukrainischen Truppen nicht, aus mehreren Gründen. "Die Teilmobilisierung hat schon jetzt einen Einfluss", sagt Gressel. Die russischen Kräfte seien zuletzt sehr ausgedünnt gewesen. Besonders bei der ukrainischen Gegenoffensive auf Charkiw habe man gesehen, dass die Russen keine Möglichkeit mehr gehabt hätten, den Durchstoss einzufangen. "Dieses Problem ist aus russischer Sicht nun etwas gelindert", so der Experte. Die Front komme nun schneller wieder zum Stehen.
Auf ukrainischer Seite herrsche jedoch ein chronischer Munitionsmangel vor. "In der Ukraine wurde ein Grossteil der Rüstungsindustrie zerstört", erinnert Gressel. Der Ukraine sei es zwar gelungen, einige Werke wieder aufzubauen oder zu verlagern und die Produktion wieder hochzufahren, aber: "Das ist nicht die Quantität, die man bräuchte", urteilt der Experte. Dieser Mangel, vor allem an Munition für Waffen östlicher Bauart, mache den Ukrainern das Leben schwer.
"Man versucht, überall noch Munition zusammenzukratzen", beobachtet Gressel. Wenn man westliche Munition verschiessen wollte, bräuchte man dafür Panzer westlicher Bauart – und auch an denen mangelt es. Über Nacht könnte die Nato keine Produktion der speziell benötigten Munition einrichten.
Russland versucht, Zeit zu gewinnen
Gerade die Region Cherson bleibt auch aus Sicht von Gressel ein enorm harter Kampf. "Die langfristige Perspektive sieht dort für die Ukrainer aber nicht so schlecht aus", meint er. Man drückt die Russen langsam Richtung Stadtrand. "Die Ukraine ist vor allem im Donbass wieder in der Defensive", beobachtet er. Russland versuche im Südosten mit neuen Kräften anzudrücken, um in Ortschaften hereinzukommen, in denen russische Kräfte gut überwintern könnten.
Wirkliche Gewinne könnten auch die Russen aktuell nicht verzeichnen. Gressel weiss, woran das liegt: "Die mobilgemachten Kräfte sind nicht besonders gut trainiert. Man kann sie zur statischen Verteidigung aus fest ausgebauten Stellungen verwenden. Aber wenn sie angreifen, funktioniert die Koordination nicht besonders gut, sodass es zu hohen russischen Verlusten kommt", erklärt er.
Er geht davon aus, dass Russland bis in den Frühling hinein versuchen wird, Zeit zu gewinnen, um seine Massnahmen der Mobilmachung abzuschliessen. "Es wird nicht gross mit Offensiven weitergehen – auf beiden Seiten nicht, da den Ukrainern Munition und Ausrüstung fehlt und den Russen die kampfstarken Kräfte", so der Experte.
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Debatte um Waffenstillstand
Er rechnet auch damit, dass die Debatte um Waffenstillstandsverhandlungen wieder stärker angeheizt wird. " Russland hat Probleme die Linien, die die Truppen aktuell halten, zu verteidigen. Wenn der Kreml einen Waffenstillstand bekäme, wären er froh darum: Er könnte ihn im Frühling einfach wieder brechen", warnt Gressel. Offiziell würde man der Ukraine dann zum Beispiel vorwerfen, sie habe bestimmte Punkte des Waffenstillstandsabkommens nicht erfüllt und es ginge wieder von vorne los.
"Der Westen darf nicht auf diese Argumentationslinie hereinfallen und bedingungslose Verhandlungen fordern", meint Gressel. Er warnt: "Der Kreml wird darauf in den nächsten Wochen bauen und darauf setzen, die Diskussion von der Überspitzung der ukrainischen Kräfte wegzulenken hin zu Verhandlungen". Den erneuten Versuch der russischen Kräfte, die Ukrainer niederzuringen, erwartet Gressel dann im kommenden Jahr. "Da werden sich leider recht schwere Schlachten abspielen", sieht er kommen.
Verwendete Quellen:
- ISW: Russian Offensive Campaign Assessment. 04.11.2022
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