Nun doch: Die USA haben zugesagt, Streumunition an die Ukraine zu liefern. Die Waffen sind international geächtet, über 100 Staaten verbieten den Einsatz – darunter auch Deutschland und Frankreich. Warum die USA den Schritt gerade jetzt gehen, wieso die Munition als so gefährlich gilt und wie gross ihr Nutzen auf dem Schlachtfeld ist, erklärt Militärexperte Gustav Gressel.

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Nach langem Zögern kam am 7. Juli die Zusage aus Washington: Die USA werden der Ukraine international umstrittene Streumunition zur Verteidigung im Krieg gegen Russland liefern. Das kündigte der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan an.

Biden selbst sagt in einem Interview mit dem Nachrichtensender "CNN" er habe die Entscheidung lange mit Verbündeten und Mitgliedern des US-Kongresses besprochen. In Kiew gehen die konventionellen Artilleriegranaten zur Neige, ebenso die Bestände bei den westlichen Verbündeten. Schneller Ersatz ist nicht möglich. Die Ukraine hatte die USA deshalb schon länger um die Lieferung von Streumunition gebeten, wovon Washington noch etwa 5 Millionen Stück in Form von Artilleriegranaten und als Raketen auf Lager hat.

Über 100 Staaten verbieten Streumunition

Die Entscheidung ist mindestens heikel: Über 100 Staaten, darunter viele Nato-Verbündete und auch Deutschland und Frankreich, haben die Oslo-Konvention unterschrieben. Sie verbietet den Einsatz und die Lagerung der Waffen – vor allem wegen ihrer Gefahr für Zivilisten, wenn Blindgänger noch Jahrzehnte später explodieren.

Die USA sowie die Ukraine und Russland haben die international geächteten Waffen nicht verboten. Sie kommen seit Kriegsbeginn auf beiden Seiten zum Einsatz. "Der militärische Nutzen von Streumunition ist extrem hoch", sagt Militärexperte Gustav Gressel im Gespräch mit unserer Redaktion. Die metallenen Geschosse, welche etwa durch Raketen oder Artilleriegranaten ins Zielgebiet gebracht werden, würden in Dutzende kleinere Sprengsätze zerspringen und somit auf einem grossen Gebiet wirken.

Militärischer Nutzen von Streumunition extrem hoch

"Streumunition ist besonders effektiv gegen jede Art von konzentrierten Kampf- und Gefechtsfahrzeugen", sagt Gressel. Die Dichte der Einschläge auf dem ausgebrachten Gebiet sei deutlich höher als mit konventioneller Artillerie, die Chance, ein Kampffahrzeug zu treffen, ungleich grösser. Mit Streumunition seien im Irakkrieg 1991 ganze Bataillone auf einen Schlag ausradiert worden. Streumunition könne auch sehr hilfreich gegen mechanisierte Reserven wirken, führt der Experte aus.

Die Hoffnung der Ukraine: Die Russen aus den Schützengräben vertreiben. "Gerade in der jetzigen Phase, wo die Russen starke Gegenangriffe gegen die ukrainische Gegenoffensive fahren, könnte man diese Gegenangriffe viel billiger, kostengünstiger und schneller stoppen", sagt Gressel.

Im Südosten des Landes kommt die ukrainische Gegenoffensive nur schleppend voran. Hier sehen sich ukrainische Soldaten russischer Streumunition ausgesetzt.

Nicht dauerhaft, sondern "nur für eine Übergangszeit", will Biden die umstrittene Munition liefern. Der US-Präsident scheint sich bewusst zu sein, dass die Entscheidung risikobehaftet ist. Menschenrechtsorganisationen haben bereits Alarm geschlagen. Zwar setzen die USA die Munition seit den 1950er-Jahren regelmässig selbst ein, neue Streumunition beschafft aber auch Washington nicht.

"Das Risiko von Streumunition ist, dass vor allem die ältere Generation eine hohe Blindgänger-Rate hat", erklärt Gressel. Wenn Streumunitionsteile auf ein gepanzertes Fahrzeug treffen würden, würden sie explodieren, aber: "Wenn sie auf weichen Grund fallen, etwa in einen Sumpf oder auf aufgeweichte Wiesen, dann explodieren sie nicht", sagt Gressel.

Grosse Gefahr für Zivilisten

Wenn man später – teilweise Jahre nach dem Konflikt – etwa mit einem Auto darüberfahre, könnten sie explodieren. "Durch Rost kann die Zündmechanik über die Zeit viel sensibler werden", ergänzt Gressel. Vor diesem Hintergrund sei die Gefahr für Zivilisten, etwa Bauern, die später Felder bestellen, hoch. Laut Menschenrechtsorganisationen sind Kinder häufig Opfer von Verletzungen mit Streumunition – denn die kleinen Bomben ähneln Spielzeug.

Selbst Washington ist daher bei der Lieferung von Streumunition strikter geworden: Geliefert werden darf nur Munition, wenn der Anteil der Blindgänger unter einer bestimmten Quote liegt. Während die russische Streumunition eine Blindgängerrate von 40 Prozent haben soll, versicherten amerikanische Regierungsvertreter, die Ukraine erhalte nur Munition mit tiefer Fehlerrate: Von den 72 Teilen, in die Granaten für die M864-Haubitzen zerspringen, seien nur 2,35 Prozent Blindgänger, behauptet das Verteidigungsministerium.

Wissenschaftliche Belege für diese Behauptung gibt es nicht und die Schätzungen gehen weit auseinander: Während laut Recherchedienst des Kongresses Hersteller die Fehlerrate auf 3 bis 5 Prozent beziffern, sollen Minenräumer von 10 bis 30 Prozent sprechen.

Gressel sagt: "Neuere Generationen haben elektrische Zünder bekommen. Nach dem Ablauf einer gewissen Zeit können sie technisch nicht mehr explodieren." Das Alterungs- und Blindgängerproblem sei dann ein anderes. Aus seiner Sicht hat die Rüstungskontroll-Lobby eine enorme Hysterie gegenüber Streumunition aufgebaut. "Sie hat die Blindgänger-Problematik genutzt, um diese Streumunition in vielen europäischen Ländern zu ächten", sagt der Experte. Für Europa sei das militärisch ein Problem, weil dadurch Verteidigungskapazität fehle.

Es sei auch denkbar, dass die Ukraine Streumunition nicht mit Fliegern abwerfen werde, sondern Submunitionskörper unter Drohnen hänge und sie gezielt über einem Panzer ausbringe. "Dann wäre die Blindgänger-Problematik auch nicht da", sagt Gressel.

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Zeitpunkt der Zustimmung seitens der USA kein Zufall

Dass sich die USA doch noch zu einer Lieferung durchgerungen haben, hält Gressel für keinen Zufall. Denn kurz vor dem Nato-Gipfel in Vilnius hatte Biden sich zu einem möglichen Nato-Beitritt der Ukraine geäussert. Sie sei noch nicht reif und ein Beitritt "unrealistisch", hatte der US-Präsident gesagt. Gressel sagt dazu: "Bidens Begründung, dass es keinen Nato-Konsens gibt, ist ein Strohmann." Die USA seien – nach Ungarn – am stärksten gegen einen Nato-Beitritt. Man wolle nur die eigene Unwilligkeit, die Ukraine aufzunehmen, rationalisieren.

"Biden hat auch argumentiert, die Ukraine könne jetzt nicht der Nato beitreten. Darauf hat aber auch niemand bestanden – es ging stets darum, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen", fügt Gressel hinzu. Dazu zählten das Ende des Krieges und Reformen.

"Auch bei den Kampfflugzeugen sind die USA derzeit der grösste Hemmschuh. Es wird Druck auf andere Staaten aufgebaut, nicht mit Trainings und Vorbereitungsmassnahmen zu beginnen", sagt Gressel. Kiew solle nun gewissermassen ruhiggestellt werden. "Durch die Lieferung von Streumunition versucht man nun den Unmut und die Unzufriedenheit in Grenzen zu halten."

Zur Person: Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmässig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Aussenpolitik bei Grossmächten.

Verwendete Quellen:

  • edition.cnn.com: CNN Exclusive: Biden says sending cluster munitions to Ukraine was ‘difficult decision,’ but ‘they needed them’
  • handicap-international.de: Streubomben Übersicht
  • sueddeutsche.de: USA liefern Ukraine Streumunition
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