Die Menschen in Kiew sind beunruhigt: Kommt es zu einem Kurswechsel in der US-Politik? Mit Trumps Wahlsieg sorgen sich die Ukrainer vor einer dramatischen Wende im Krieg gegen Russland und den Fortbestand der Unterstützung aus Washington.

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11.36 Uhr im hippen Kiewer Stadtviertel Schewtschenko. Ein grauer Himmel liegt über der Hauptstadt der Ukraine. Ähnlich grau sind die Gesichter der Passanten, die durch die Strassen ziehen. Die Blicke nach unten gerichtet, eine stille Strömung, jeder Tropfen in Bewegung, flüchtig, rastlos.

6. November – es ist der Tag, an dem die US-Wahlergebnisse nach und nach bekanntgegeben werden – und die Ukraine wirkt hoffnungslos. Reden will man kaum, vor allem nicht über die Vereinigten Staaten. Enttäuschung mischt sich mit Geschäftigkeit. Wut mit Bestürzung.

"Als ich heute Morgen aufgewacht bin und die bisherigen Wahlergebnisse gesehen habe, wurde mir schlecht."

Warwara Jagnyshew

Warwara Jagnyshew sitzt im Aussenbereich eines der vielen jungen Cafés des Schewtschenko-Viertels und raucht. "Als ich heute Morgen aufgewacht bin und die bisherigen Wahlergebnisse gesehen habe, wurde mir schlecht", erzählt die 29-jährige Architektin, zieht an ihrer langen, dünnen Zigarette und blickt besorgt drein. "Wir sind sowieso schon am Ende", sagt sie. "Aber wenn er wirklich gewinnen sollte, wird es nur noch schlimmer."

Mit "ihm" meint Jagnyshew Donald Trump. Am Vormittag dieses Tages sind noch nicht alle Stimmen der US-Wahl ausgezählt, doch der Ex-Präsident und Republikaner Trump liegt bereits weit vor seiner Konkurrentin, der Demokratin Kamala Harris.

Selenskyj gratuliert Trump und lobt Ansatz des "Friedens durch Stärke"

Noch bevor Trumps Wahlsieg offiziell ist, gratuliert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dem Republikaner über den Kurznachrichtendienst X, nennt das bisherige Ergebnis einen "beeindruckenden Wahlsieg". Er spricht von Trumps Engagement für den Ansatz "Frieden durch Stärke" und sieht darin Parallelen zu einem gerechten Frieden in der Ukraine. Selenskyj versucht, Zuversicht zu streuen – und doch wirkt es in der Hauptstadt eher so, als hätte das Land eben genau diese mit dem heutigen Tag verloren.

Als Russland die Ukraine 2022 überfallen hatte, sagte Donald Trump, mit ihm als US-Präsident wäre es nie so weit gekommen. Ähnliche Töne liess er immer wieder verlauten, auch während des Wahlkampfs. Innerhalb von 24 Stunden könne er diesen Krieg beenden, wiederholte er in vielen seiner Reden.

Die Signale Trumps bezüglich der Ukraine waren indes widersprüchlich, sagt der Politikwissenschaftler und Analyst des Stockholm Center for Eastern European Studies Andreas Umland. Während der Grossteil der radikalen Republikaner tendenziell eher geringe Sympathie für die Ukraine zeigte, äusserte sich Trump nie konkret zu einem möglichen Friedensplan. Doch die Sorgen vonseiten Europas und der Ukraine waren gross: Werden Waffen- und Hilfsgüterlieferungen eingestellt, sobald der Republikaner wieder das Weisse Haus bezieht?

Derzeit ist wohl kaum ein anderes Land so stark auf die USA angewiesen, wie die Ukraine. Ohne die fortwährende Unterstützung der westlichen Partner – so sehen es vor allem die Menschen vor Ort – würde das Land heute wohl nicht mehr existieren. Ein Grossteil der Ukrainer wünscht sich einen Betritt zur Nato, die USA werden hier als einer der wichtigsten Partner angesehen.

Zwar war man oft unzufrieden mit der Menge der Waffenlieferungen, den vielen Diskussionen über die Art und Reichweite der Systeme. Oft ging es den Ukrainern zu langsam – vor allem zu Beginn dieses Jahres, als Waffenlieferungen wegen einer republikanischen Blockade im US-Kongress verzögert wurden. Doch grundsätzlich war man in Kiew dankbar für die Unterstützung und erhoffte sich mehr.

Kurswechsel in US-Politik schon länger befürchtet

Ein Sieg der Demokratin Kamala Harris, das wussten auch viele, hätte vermutlich keine grossen Veränderungen gebracht. Doch zumindest wäre eine anhaltende Unterstützung wohl gesichert gewesen. Aber wie sieht es mit Trump als Präsidenten aus? Selenskyj hatte früh auf einen möglichen Kurswechsel reagiert. Bereits im August war er bei einem Besuch in den USA auch zu einem Treffen mit Trump erschienen. Sein Ton änderte sich – auch in Bezug auf eine Friedenslösung.

In einem Interview mit dem britischen Sender BBC erklärte der ukrainische Präsident damals, er sei bereit, direkt mit Russlands Präsident Wladimir Putin zu verhandeln. "Wir werden mit denen sprechen, die in Russland die Entscheidungen treffen," sagte er. Es sei zudem nicht nötig, alle besetzten Gebiete militärisch zurückzuerobern.

Ukraine ist auf die USA angewiesen

Gebietsabtretungen an Russland waren also plötzlich auch auf dem Tisch – jedoch nur, falls das Volk dem zustimmen würde. Jede Frage zur "territorialen Integrität der Ukraine", meinte Selenskyj, könne "weder von einem Präsidenten noch von einer einzelnen Person oder allen Präsidenten der Welt ohne das ukrainische Volk entschieden werden." In Kiew galt die Abgabe von Gebieten bis dato als unantastbares Tabu.

Schon damals hatte Experte Umland erklärt, man bereite sich womöglich auf eine neue US-Politik vor. Aus heutiger Sicht, sagt er nun auf Anfrage unserer Redaktion, sei dieses Treffen zwischen Trump und dem ukrainischen Präsidenten wohl ein guter Schachzug gewesen. "Jedoch ist unklar, inwieweit sich Trump für die Interessen der Ukraine einsetzen wird."

"Ein Grossteil der politischen Elite der EU lebt in einem welt-, europa- und russlandpolitischen Wolkenkuckucksheim."

Andreas Umland

Und Kiew habe auch keine andere Wahl, meint der Analyst. Ein Grossteil der kontinentaleuropäischen Politiker bezeichnet er als weltfremd, die Unterstützung der EU als verhalten. "Kiew bleibt wenig anderes übrig, als die Unterstützung der USA zu suchen." Die EU, meint Umland, hätte genügend finanzielle Mittel und hinreichende sicherheitspolitische Gründe dafür, die gesamte Unterstützung für die Ukraine zu übernehmen – notfalls auch durch den Aufkauf US-amerikanischer Waffensysteme für die Ukraine.

"Allerdings lebt ein Grossteil der politischen Elite der EU in einem welt-, europa- und russlandpolitischen Wolkenkuckucksheim, in dem die aus Moskau ausgehende Gefahr für den gesamten Kontinent und die internationale Sicherheitsordnung nicht wahrgenommen wird", sagt Umland. In Washington habe man dies – zumindest bisher – besser verstanden. "Das kann sich nun jedoch ändern."

September: Trump erklärt Ukraine für tot

Ende September erklärte Trump die Ukraine auf einer Wahlkampfveranstaltung quasi für tot. Wieder sagte er, mit ihm wäre es nie dazu gekommen. "Es wäre nicht passiert. Punkt. Russland wäre nicht einmarschiert. Ich habe mit Putin oft darüber gesprochen." Millionen und Abermillionen Menschen seien jetzt tot. Jede Stadt ausser Kiew sei zerstört. "Die Ukraine ist weg. Es ist nicht mehr die Ukraine", sagt Trump damals. Und: "Jeder Deal, selbst der schlechteste, wäre besser gewesen als das, was wir jetzt haben. Sie hätten ein bisschen was aufgegeben und alle wären noch am Leben."

Auf dem Majdan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew, erinnern Tausende kleine Fähnchen und Fotos an eben jene Soldaten, Journalisten und Freiwilligen, die in diesem Krieg getötet wurden. Wie viele es wirklich sind – diese Zahl lässt sich noch immer nicht eindeutig benennen. Von Abermillionen kann jedoch nicht die Rede sein.

Der graue Himmel hat sich mittlerweile in ein Abendrot verwandelt und taucht die Dächer des Kiewer Regierungsviertels in ein warmes, orangefarbenes Licht. Es ist kurz vor 16 Uhr. Donald Trump ist mittlerweile offiziell Wahlsieger und die Ukrainerin Anna Klimova hat sich auf dem Majdan eines der kleinen blau-gelben Fähnchen von einem Strassenverkäufer besorgt. Mit einem schwarzen Marker schreibt sie das Datum des 4. November und einen Namen darauf.

"Die USA haben uns aufgegeben"

Sie trauert um ihren langjährigen Freund, der ihren Angaben zufolge in der Nähe der ostukrainischen Stadt Pokrowsk kämpfte. Viel reden möchte sie nicht. "Wir können nicht mehr", sagt sie. Die Augen glasig und rot. Auch Wangen und Nasenspitze färben sich rötlich. Es ist windig, sieben Grad Celsius. Die Frau mit den schwarzen Haaren läuft um das Gelände mit den Fähnchen herum, sucht eine geeignete Stelle für ihren Freund. Heute sei kein guter Tag für die Ukraine, sagt sie. "Und die USA haben uns auch aufgegeben."

Trump deutete mit seiner Wahlkampfrede im September bereits an, welche Politik er ansteuern möchte. Experte Umland meint: "Es ist zu befürchten, dass Trump einen Siegfrieden für Russland und eine Teilkapitulation der Ukraine durchsetzen wird. Dass damit keineswegs nachhaltiger Frieden in Osteuropa gesichert werden wird, könnte erst nach Trumps Präsidentschaft sichtbar werden." In der Ukraine herrsche nun schlichte Angst davor, von den MAGA-Republikanern und den Europäern an Russland ausgeliefert zu werden.

Über den Gesprächspartner

  • Andreas Umland ist promovierter Politikwissenschaftler, Publizist und Analyst beim Stockholm Center for Eastern European Studies. Er ist Gründer und Redakteur der Buchreihe "Soviet and Post-Soviet Politics and Society" und neben weiteren Projekten auch Vorstandsmitglied des Deutsch-Ukrainischen Forums

Quellen

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