• Im Ukraine-Krieg versucht der Westen mit einer Stimme zu sprechen, aber die Einheit bröckelt.
  • Doch es gibt Gründe, warum anderen Ländern der Satz "Die Ukraine muss gewinnen" viel leichter über die Lippen geht.
  • Experte Tobias Fella erklärt die Hintergründe, die man kennen sollte.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin bzw. des zu Wort kommenden Experten einfliessen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Im Ukraine-Krieg wächst die Kritik am deutschen Handeln zunehmend. Besonders nach der Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) hatte sich die internationale Weltgemeinschaft mehr Engagement von Deutschland erhofft. Doch nun hagelt es Kritik.

"Dieser Krieg setzt der deutschen Führung in Europa ein Ende", schrieb jüngst der Journalist und Politiker der links-ökologischen Partei "Place publique" Raphaël Glucksmann auf Twitter. Man könne nicht darauf zählen, dass die erhoffte Änderung eingetreten sei. Auch vom ehemaligen Ministerpräsidenten Polens, Donald Tusk, kam Kritik: "Die Deutschen müssen die Ukraine heute fest unterstützen, wenn wir glauben sollen, dass sie die Schlüsse aus ihrer eigenen Geschichte gezogen haben", twitterte er.

Dass Scholz im Ukraine-Krieg bereits mehrfach mit Moskau telefoniert hat, stösst in den anderen EU-Staaten ebenfalls auf Unverständnis. Estlands Regierungschefin Kaja Kallas sagte im Nachgang des EU-Gipfels: "Wir hatten eine sehr hitzige Debatte darüber, Putin anzurufen." In der ARD bezeichnete Polens Vizeaussenminister Szynkowski vel Sęk die Gespräche als "absolut sinnlos".

Dass Scholz mit Putin telefoniere, anstatt nach Kiew zu reisen, bringe der Ukraine nichts und Putin neue Glaubwürdigkeit. Die Kommentare passen ins Bild: Während andere Länder mit viel Engagement auffallen, hinkt Deutschland hinterher.

So lieferte Grossbritannien als erstes europäisches Land Waffen an die Ukraine, Estland hat seit Kriegsbeginn verhältnismässig die meiste finanzielle Unterstützung aufgewandt und Polen hat eine Kehrtwende in seiner Flüchtlingspolitik hingelegt.

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Sichtweise der Osteuropäer

Politikwissenschaftler Tobias Fella sagt: "Man kann im Westen inzwischen unterschiedliche Gruppen in der Haltung gegenüber Russland erkennen. Die Einheit fragmentiert – aber sie ist noch da". Besonders die osteuropäischen Länder aber fallen mit ihrem Engagement auf: So haben die Polen der Ukraine bereits mehrere Hundert Panzer geliefert, aus Tschechien kommen mehrere Dutzend und die Slowakei übergab ein Flugabwehrsystem.

"Für diese Länder findet in der Ukraine ein Weltordnungskrieg statt, bei dem die liberale Ordnung zugunsten einer imperialen Variante unter Beschuss steht", sagt Fella. Weil Länder wie Polen und Tschechien keine Grossmächte seien, hätten sie die Sorge, in einem Modell der Grossmächte zerrieben zu werden.

Eigene Existenz gefährdet

"Die Osteuropäer bewerten den Krieg als existenzgefährdend, Deutschland und Frankreich dagegen nicht", macht er deutlich. Berlin und Paris fürchteten nicht, Teil der russischen Einflusssphäre zu werden.

"Für die Westeuropäer geht es abstrakter darum, die liberale internationale Ordnung zu schützen und die Wirkung des Kriegs auf Wirtschaft und Menschen einzudämmen", erklärt der Experte.

Die Osteuropäer hätten hingegen das Gefühl, ihre Städte, ihren Grund und Boden und ihre Chancen, die eigene Zukunft zu bestimmen, verteidigen zu müssen.

"Sie haben Angst, dass Einflusssphären zurückkehren und Putin sich in ihre inneren Angelegenheiten einmischen wird. Diese Erfahrungen haben die Länder bereits gemacht", sagt Fella. "Fällt die Ukraine, macht Putin weiter", hatte Tschechiens Aussenminister Jan Lipavsky passend dazu in einem CNN-Interview erklärt.

Ihre Sorge sei auch, dass Deutschland doch wieder in Versuchung kommen könnte, vorteilhafte materielle Abkommen mit Russland zu schliessen, meint Fella. "Deutschland könnte aus ihrer Sicht in einer Welt der Imperien bestehen und könnte die Beziehung zu Russland als wichtiger bewerten als die zu ihnen", erklärt der Experte.

Kollektives Trauma

Das Engagement der osteuropäischen Länder habe noch einen weiteren Grund: "Diese Länder wollen dem Westen und vor allem den USA demonstrieren, dass sie es wert sind, zur westlichen Wertegemeinschaft zu gehören und verteidigt zu werden", analysiert Fella.

Die osteuropäischen Länder hätten erlebt, was es bedeute, unter russischer oder sowjetischer Besatzung zu stehen und zwischen Grossmächten zerrieben zu werden. "Dadurch gibt es das kollektive Trauma zu spüren, nicht mächtig genug zu sein, um sich selbst zu verteidigen", so Fella. "Die Osteuropäer wissen auch um die deutsche und französische Macht und die Optionen, die daraus erwachsen. Das macht sie argwöhnisch und lässt sie für Schutz in die Vereinigten Staaten blicken", meint Fella.

Warum Ungarn herausfällt

Historische Erfahrungen, die nahe geografische Lage an Russland und die begrenzte wirtschaftliche und militärische Macht kämen zusammen. Herausfallen tut in dieser Gruppe nur ein Land – Ungarn. Das Land blockierte zuletzt das sechste EU-Sanktionspaket mit einem Öl-Embargo und setzte einen Kompromiss durch.

Ein Grund dafür sei, dass Ungarn sehr abhängig von russischem Erdöl sei – aber nicht nur: "Präsident Orbán ist der Meinung, dass Moskau sich ihm gegenüber immer korrekt verhalten hat. Er will sich Privilegien von beiden Seiten sichern – aus Russland und aus dem Westen", schätzt Fella. Zudem gäbe es ideologische Parallelen.

Forderungen, die Sanktionen gegen Russland weiter zu verschärfen und die Nato-Präsenz auszuweiten, kommen auch aus den baltischen Staaten. "Estland, Lettland und Litauen fürchten, sie könnten bei einer russischen Aggression schnell überrannt werden", sagt Fella. Die baltischen Staaten seien geopolitisch exponiert.

Es gäbe nur eine Landverbindung zum restlichen Bündnisgebiet, über die Russland das Baltikum abriegeln könnte. "Man hat Angst, dass die Nato trotz Bündnisfall in einem solchen Szenario aufgrund der damit verbundenen hohen Kosten nicht eingreifen würde,“ sagt Fella.

Globale Ordnungsmacht USA

Die Sorge vor einem aggressiven Russland sei schon in den letzten Jahren im Baltikum vorhanden gewesen, man fühle sich nun bestätigt. "Man fürchtet auch, Russland könne den Westen im Baltikum testen, wenn in der Ukraine keine bedeutenden Fortschritte erzielt werden“, sagt Fella.

In einem hybriden Szenario könnte Moskau versuchen, dortige russische und russophone Minderheiten über gezielte Desinformation zu aktivieren und dadurch Unruhe stiften, die dann als Grund für einen russischen Eingriff herangezogen werden könnte.

Im Unterschied zu Deutschland verstünden sich die USA und nachgeordnet Grossbritannien als entscheidende Akteure der liberalen Ordnung, von denen die Zukunft von Freiheit und Demokratie abhängt. "Während die USA in den vergangenen Jahrzehnten weltweit dafür die militärischen und diplomatischen Strukturen geschaffen haben, wollen die Briten auch nach dem Brexit ihren Einfluss auf dem europäischen Festland bewahren", sagt Fella.

Kalkül des Kremls

Das im Vergleich zurückhaltende Engagement Deutschlands erkläre sich auch mit einer grundlegend anderen Herangehensweise an den Konflikt. "In Deutschland gibt es starke strukturelle Abhängigkeiten von Russland", erinnert Fella. Man strebe auch kein zu schwaches Russland an, weil man es in anderen Belangen – etwa dem Kampf gegen den Klimawandel – noch brauche.

"Man versucht hierzulande eine Konfrontation zu vermeiden, weil man annimmt, dass man Russland nach dem Krieg noch brauchen wird", schätzt Fella. Er warnt davor, das Kalkül des Kremls aufgehen zu lassen. "Moskau rechnet damit, dass der Westen nicht standfest genug ist und irgendwann müde wird, der Ukraine zu helfen", sagt er.

Der Faktor Zeit sei eine wichtige Grösse in Putins Politik. "Er denkt, wenn Russland lange genug durchhält, werde der Westen schon zerbrechen. Dabei spielt er mit den Karten Gas, Öl, Ernährung und Angst vor dem Krieg."

Über den Experten:
Tobias Fella ist sicherheitspolitischer Referent des Hamburger Haus Rissen. Zuvor war er Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und der Stiftung Wissen und Politik (SWP). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Russische Aussen- und Sicherheitspolitik, neue Militärtechnologien und der Formwandel des Krieges sowie soziale Medien und Desinformationskampagnen.

Verwendete Quellen:

  • Spiegel.de: Estlands Regierungschefin berichtet von "hitziger Debatte" über Putin-Anrufe
  • BR.de: Polens Vizeaussenminister nennt Scholz' Telefonate mit Putin sinnlos
  • IfW Kiel Institute For The World Economy: Engagement Baltikum/Osteuropa im Verhältnis zum BIP
  • CNN Interview mit Jan Lipavský
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