• Um Russland für sein aggressives Verhalten zu sanktionieren, wurde ein Ausschluss des Landes aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT ins Gespräch gebracht.
  • Unter der Massnahme würde auch Europa leiden.
  • Profitieren könnte davon am Ende vor allem ein Land.

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Der russische EU-Botschafter machte den Menschen an der Grenze von Ukraine und Russland vergangene Woche Hoffnung auf ein entspanntes Weihnachtsfest. "Ich kann versichern, dass keine russischen Truppen mit den Vorbereitungen für eine Invasion in die Ukraine beschäftigt sind", sagte Wladimir Tschischow der "Welt".

Zu einer Invasion kam es an den Feiertagen tatsächlich nicht. Das Problem ist jedoch: Was Russland sagt und was Russland macht, das waren schon in der Vergangenheit zwei unterschiedliche Dinge. Und so sprechen die Fakten eine ganz andere Sprache: Rund 100.000 Soldaten sind derzeit an die Grenze zur Ukraine versetzt und noch in dieser Woche will das russische Verteidigungsministerium ein neues Militärmanöver beginnen, mit 1.200 Soldaten, hunderten Fallschirmjägern und mehr als 250 Fahrzeugen und Flugzeugen.

Man darf annehmen, dass im Hauptquartier der Nato, im Brüsseler Berlaymont-Gebäude und in Washington die Zahl derjenigen, die noch an eine friedliche Beilegung des Konflikts glauben, minütlich sinkt. Was aber tun, wenn Russland die Ukraine militärisch angreifen sollte? Die NATO hat für diesen Fall angekündigt, "ernsthafte Konsequenzen" ziehen zu wollen, wobei diese Aussage bislang nicht näher konkretisiert wurde.

Klar ist nur, dass das Militärbündnis wirtschaftliche Sanktionen einer militärischen Eskalation des Konflikts vorzieht. Als "ultima ratio" wurde in diesem Zusammenhang ein Ausschluss Russlands aus dem internationalen Finanzsystem SWIFT ins Gespräch gebracht - die grösste nicht-militärische Eskalationsstufe, weil sie den ausländischen Zahlungsverkehr Russlands auf einen Schlag lahmlegen könnte.

Für einen der grössten Energieexporteure der Welt wäre das eine empfindliche Strafe, oder, wie es der Chef der zweitgrössten russischen Bank VTB formulierte: Eine "Atombombe im Finanzsystem".

SWIFT: Ein Sanktionsinstrument mit hohen Kollateralschäden

Denn SWIFT, 1973 als privater Verein in Brüssel gegründet, ist heute der Industriestandard für die gesamte elektronische Kommunikation, die bei internationalen Transaktionen anfällt. Mehr als 8.000 Geldinstitute in über 200 Ländern wickeln so ihren Nachrichten- und Zahlungsverkehr ab, darunter Börsen, Geschäftsbanken, Fondshäuser und sogar die Deutsche Bundesbank.

Im letzten Jahr betrug das abgewickelte Geldvolumen rund 40 Billionen Euro. Ohne den Kommunikations-Knotenpunkt SWIFT ist eine juristisch saubere Kommunikation über Ländergrenzen hinweg praktisch nicht möglich. Eine Visa-Karte wäre so viel Wert wie ein Stück Plastik.

Wegen der grossen Kollateralschäden, die ein SWIFT-Ausschluss in einer vernetzten Welt mit sich bringt, eignet sich das Sanktionsinstrument besonders für kleinere Länder oder solche, die im globalen Wirtschaftskontext nur eine geringe Rolle spielen. Letzteres trifft auf den Iran zu, den die Amerikaner 2012 als Reaktion auf das Atomprogramm aus SWIFT ausschlossen. Die Mullahs wurden auf diese Weise an den Verhandlungstisch gezwungen, ohne dass westliche Unternehmen grösseren Schaden nahmen.

Für den Iran war das Embargo hingegen eine Katastrophe: Der Aussenhandel brach ein, Kreditkarten verloren ihren Wert, Geld konnte nur noch bar über die Grenze oder über kleinere iranische Banken, die nicht blockiert waren, überwiesen werden. In der Folge erlebte der Iran einen jahrelangen wirtschaftlichen Niedergang.

Doch Iran ist nicht Russland – letzteres ist immerhin der fünftgrösste Handelspartner der EU. Und anders als Russland war Iran zum Zeitpunkt des SWIFT-Ausschlusses bereits mit Sanktionen belegt und weitgehend wirtschaftlich isoliert. Der SWIFT-Ausschluss stopfte damals nur die Schlupflöcher, die es kleineren iranischen Unternehmen erlaubt hatte, die bestehenden Wirtschaftssanktionen zu umgehen.

Europa mahnt zur Zurückhaltung

Die enge wirtschaftliche Verzahnung Russlands mit dem Westen, insbesondere mit der europäischen Energiewirtschaft, wirkte deshalb die letzten Jahre wie ein Schutzschild gegen wiederkehrende Bestrebungen der USA, Russland für sein aggressives Vorgehen aus SWIFT auszuschliessen. Da Europa, das rund 39 Prozent des Energiebedarfs aus Russland bezieht, in diesem Winter mal wieder zu spüren bekommt, welchen Hebel Moskau besitzt, dürfte sich an dieser Haltung wenig ändern.

"Ohne internationalen Zahlungsverkehr könnte Russland kein Erdgas und Erdöl mehr an Westeuropa liefern und auch die EU könnte kaum noch etwas an Russland verkaufen", sagt Markus Nenninger, Payment-Experte beim Beratungshaus MSG Gillardon. "Die wirtschaftlichen Folgen wären immens."

Zu den schmerzhaften Folgen für Unternehmen, die ihr Russlandgeschäft entweder aus anderen Ländern betreiben oder ganz einstellen müssten, kommt hinzu, dass auf europäischen Bankbilanzen aktuell Forderungen in Höhe von 56 Milliarden Euro an russische Banken und Firmen schlummern. Ausserdem haben europäische Firmen und Privatleute Kapitalwerte in Höhe von mehr als 350 Milliarden Euro in ihren Büchern stehen.

Diese stünden bei einem SWIFT-Ausschluss zwar nicht unmittelbar zur Disposition, aber Spekulation und Verkauf wären fast unmöglich. All das macht es der EU nicht leicht, einem SWIFT-Ausschluss zuzustimmen.

Russland ist heute besser vorbereitet

Fraglich ist auch, wie gross der Krater wäre, den ein SWIFT-Ausschluss in das russische Finanzsystem reissen würde: Tatsächlich so gross wie eine Atombombe - so hatte es der VTB-Chef formuliert, oder doch eher wie eine mittelschwere Mörsergranate? Vieles spricht für letzteres.

Zwar würde nach einem SWIFT-Ausschluss eine massive Kapitalflucht einsetzen, die besonders jene Unternehmen träfe, die im Ausland verschuldet sind. Der Rubel würde massiv abgewertet, Russland stünde mit grosser Wahrscheinlichkeit vor einer Rezession. Gleichzeitig hat Moskau seine Wirtschaft die letzten Jahre auf dieses Szenario vorbereitet, was auch der russische Wirtschaftsminister gerade erst betonte: "Diese Drohungen hören wir nicht zum ersten Mal, wir wissen also, was zu tun ist."

Schon 2014, als Russland auf der Krim einmarschierte, wollten die Amerikaner Russland aus SWIFT werfen, konnten sich gegen die Europäer aber nicht durchsetzen. Moskau hat seitdem Massnahmen unternommen, um die Sanktionseffekte zu dämpfen. Kurzfristig würden Unternehmen wahrscheinlich auf das langsamere und ineffiziente TELEX-System umschalten, das bis zur Inbetriebnahme von SWIFT genutzt wurde, auch traditionelle Systeme wie das Telefon oder E-Mail würden wieder en vogue.

Russische Banken, die von internationalen Kartensystemen wie Visa oder Mastercard abgeschnitten sind, könnten für nationale Transaktionen auf das "National Payment Card System" (Mir) zugreifen, das bereits 73 Millionen Kreditkarten ausgegeben hat und von Rentnern, Beamten und Angestellten im Öffentlichen Dienst ohnehin standardmässig genutzt wird.

Mittelfristig würde das russische Pendants zu SWIFT – SPFS –, an Bedeutung gewinnen, das 2014 von der Zentralbank eingeführt wurde, mit dem Ziel, Russland unabhängiger vom Brüsseler System zu machen. Auch internationale Kunden wie UniCredit, die Deutsche Bank oder Raiffeisen zählen zu den Kunden von SPFS.

Der grosse Profiteur wäre China

Langfristig jedoch könnte China, der zweitwichtigste Handelspartner Moskaus, profitieren. Bereits heute sind 23 russische Banken an dessen Zahlungssystem CIPS angeschlossen, weitere dürften folgen. "Russland würde sich nach einem SWIFT-Ausschluss noch viel stärker als bisher nach Peking ausrichten", sagt Payment-Experte Nenninger. "Das Land würde China förmlich in die Arme getrieben."

Dazu kommt: Auch andere Staaten, die angespannte Beziehungen zu den USA und Europa haben, dürften die Situation mit Interesse beobachten, und versuchen, ihre Abhängigkeit von westlichen Zahlungssystemen zu reduzieren. CIPS könnte sich langfristig als ernstzunehmende regionale Alternative zum bisher dominierenden SWIFT-System entwickeln.

Zwar liegt dessen tägliches Zahlungsvolumen mit rund 50 Milliarden Euro noch weit hinter SWIFT (400 Milliarden) zurück. Dank inkrementeller Neuerungen, etwa dass Zahlungen auf chinesisch abgewickelt werden könnten, verdoppelte sich dieser Wert jedoch allein im letzten Jahr. "Langfristig kann das Risiko eines SWIFT-Ausschlusses von Russland den Renminbi stärken und es China erleichtern seinen eigenen Wirtschaftsraum auf Kosten der USA zu vergrössern", so Nenninger.

In Europa, wo sich ein SWIFT-Ausschluss Russlands auch in den Bilanzen der Unternehmen bemerkbar machen würde, dürfte man sich in Zukunft ebenfalls unabhängiger von den Amerikanern machen. Das europäische Pendant zu SWIFT – INSTEX – wird bislang nur für den humanitären Warenaustausch mit dem Iran genutzt, doch das Beispiel zeigt, dass die technischen Möglichkeiten für eine grössere europäische Autarkie vorhanden sind. Russland und China haben ihre Unterstützung bereits angeboten.

Über den Experten: Markus Nenninger ist Experte für das Thema Zahlungsverkehr und leitet beim Software- und Beratungsunternehmen msg GillardonBSM die Abteilung Payments.

Verwendete Quellen:

  • Economist: The hidden costs of cutting Russia off from SWIFT
  • Deutsche Bundesbank: SWIFT
  • Statista: verschiedene Exportstatistiken
  • WELT: Interview mit dem russischen EU-Botschafter
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