- Keine Osterweiterung, Sicherheitsgarantien von der NATO, keine Raketen in seiner Nähe: Die Liste mit Forderungen von Russland an den Westen ist lang.
- Doch es liegen nicht alle Interessen offen auf dem Tisch, ist sich Russland-Experte Janis Kluge sicher.
- Er erklärt, was Putin wirklich umtreibt und wovor der Kreml-Chef Angst hat.
Im diplomatischen Konflikt zwischen Russland und dem Westen ist noch keine Entspannung in Sicht. Nach dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ist auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) Anfang dieser Woche nach Moskau gereist, um Kreml-Chef Vladimir Putin zu treffen. US-Präsident Joe Biden telefonierte in der Ukraine-Krise bereits mit dem russischen Machthaber.
Was der Westen will, ist relativ klar: Einen Krieg unbedingt verhindern. Was
Unklar, was Putin wirklich will
Auch Russland-Experte Janis Kluge sagt: "Tatsächlich ist es aktuell ein grosses Problem, genau zu wissen, was hinter der Zuspitzung steckt." Russland habe bereits eine Reihe unterschiedlicher Forderungen aufgestellt: "Die Ukraine soll die Minsker Vereinbarung umsetzen und der Westen dahingehend Druck aufbauen, die NATO soll eine Osterweiterung ausschliessen und auch Schweden und Finnland sollen keine Nato-Mitglieder werden", zählt Kluge auf.
Als Sicherheitsgarantie fordert Putin von den westlichen Staaten, kein zusätzliches Militär und Waffen ausserhalb der Länder einzusetzen, in denen sie sich im Mai 1997, vor dem Beitritt der osteuropäischen Länder zum NATO-Bündnis, befanden. Das soll nur in Ausnahmefällen und mit Zustimmung Russlands möglich sein.
Echter Verhandlungswille fraglich
Die NATO soll ausserdem alle militärischen Aktivitäten in der Ukraine, Osteuropa, Transkaukasien und Zentralasien unterlassen und keine Mittel- und Langstreckenraketen dort stationieren, wo russisches Gebiet getroffen werden könnte. Jens Stoltenberg, NATO-Generalsekretär, wies diese Maximalforderungen bereits zurück.
"Es ist nicht klar, ob der Wille, über all diese Dinge zu verhandeln, echt ist", so Experte Kluge. Im Dezember seien sofort Vertragsentwürfe veröffentlicht worden. "Es ging also offenbar nicht um eine Verhandlung, sondern eher um die Öffentlichkeit. Bei einem normalen Verhandlungseinstieg wäre das anders abgelaufen", so der Experte.
Experte: "Putin erhöht Druck unspezifisch"
Er glaubt deshalb, dass etwas anderes hinter Putins Säbelrasseln steckt. "Russland will den Druck unspezifisch erhöhen und in verschiedenen Richtungen schauen, welche Zugeständnisse man damit erreichen kann", analysiert er. Zum Teil sei der Kreml-Chef damit bereits erfolgreich gewesen: "Russland ist im Westen viel mehr im Gespräch und man macht sich auch in Deutschland viele Gedanken darüber, wie man Russlands Forderungen erfüllen könnte", so Kluge.
Die Angst vor einer möglichen Osterweiterung des NATO-Bündnisses hält der Wissenschaftler für vorgeschoben. "Es ist auch für Moskau klar, dass ein Beitritt der Ukraine zur NATO weder jetzt noch mittelfristig auf dem Plan steht", ist er sich sicher. Russland habe ausserdem nach langen Verhandlungen die NATO-Osterweiterung in den 1990er Jahren akzeptiert.
Osterweiterung: Keine akute Angst
Dass Putin auf ein Versprechen in der Vergangenheit pocht, nach dem der damalige US-Aussenminister James Baker zu Staatschef Michail Gorbatschow gesagt haben soll, dass "sich die gegenwärtige Militärhoheit der NATO nicht ein Zoll in östlicher Richtung ausdehnen wird", hält Kluge ebenfalls für Taktik.
"Der Zug ist abgefahren. Man kann die Sicherheitsarchitektur in Europa nicht auf den Stand der 90er zurückdrehen", sagt er. Laut westlichen Diplomaten war in Bakers Aussage ausserdem das Gebiet der DDR gemeint, eine NATO-Expansion sei zum damaligen Zeitpunkt überhaupt noch nicht diskutiert worden.
Putin blickt auf sein Vermächtnis
Aus Sicht von Kluge geht es Putin eher darum, Grossmacht-Phantasien zu verfolgen und den Einfluss in der Ukraine wiederherzustellen. Die Mission: Die Wiederauferstehung Russlands als Grossmacht.
"Ihm scheint sein historisches Vermächtnis immer wichtiger zu werden", so der Experte. In der Vergangenheit schrieb Putin einen Essay, in dem er Russen, Ukrainer und Belarussen als "ein Volk" bezeichnete, welches vom Westen auseinanderdividiert werde. "Putin erkennt die Eigenständigkeit der Ukraine also nicht wirklich an", so Kluge. Aus Sicht des russischen Präsidenten wäre es daher ein grosser Makel, wenn er derjenige wäre, der die Ukraine verloren habe.
Zeitfenster wird für Putin enger
"Die Ukraine ist zwar wirtschaftlich nicht besonders stark oder verfügt über besondere Ressourcenvorkommen, aber es ist das bevölkerungsreichste Land im postsowjetischen Raum und es ist Russland am ähnlichsten", erinnert Kluge. Es sei für Russland deshalb besonders wichtig, dass dort kein pro-westlicher Präzedenzfall geschaffen wird. "Das könnte sonst in die russische Gesellschaft zurückspiegeln und eine Vorlage für Visionen werden", so Kluge.
Und Putin scheint zu spüren, dass das Zeitfenster enger wird: Die Ukraine reformiert sich beständig weiter, baut Streitkräfte auf und rückt immer näher an den Westen heran. "Für Russland wird es mit jedem Jahr schwieriger, den Einfluss auf die Ukraine wiederherzustellen", sagt auch Kluge.
Günstiger Zeitpunkt zum Handeln
Gleichzeitig seien die Verhandlungen in Form des Normandie-Formates, einer Kontaktgruppe zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine, ins Stocken geraten. "Es ist für Russland nicht klar, ob es über diesen Weg noch etwas erreichen kann", sagt Kluge. Der Zeitpunkt, jetzt die Initiative zu ergreifen, müsse Putin deshalb günstig erschienen sein.
"Er hat auch sicherlich genau beobachtet, wie
Experte: "Kriegsgefahr ernstnehmen"
Den Westen über den Ukraine-Konflikt zu spalten, das sei Putin bislang allerdings nicht gelungen. "Die Abstimmung zwischen den NATO-Staaten hat sich verbessert, auch das transatlantische Verhältnis ist enger geworden", sagt Kluge. Ob Putin wirklich an einem Krieg interessiert ist, hält Kluge für schwer berechenbar.
"Man muss die Drohungen in jedem Fall ernst nehmen", sagt er. Ein grosser Krieg berge für Russland aber grosse Risiken – sowohl innen- als auch aussenpolitisch. "Bei Sanktionen wäre auch die russische Bevölkerung betroffen, sie steht nicht hinter einem Krieg. Aussenpolitisch würde Russland die Position aufgeben, in der es offiziell als Vermittler auftritt", sagt Kluge.
Russland riskiert viel
Schliesslich habe Russland es in der Vergangenheit immer darauf angelegt, weder zu deeskalieren noch bis zum letzten Schritt zu eskalieren. "Es hat immer einen Zwischenweg gewählt – das hat das westliche Bündnis am meisten gespalten", so der Experte.
Russland habe oft verdeckt und inoffiziell unter einem Schleier der Scheinlegitimität agiert. "Jeder konnte so seine Interpretation der Ereignisse vertreten – auch solche, bei denen Russland keine Schuld trägt", macht Kluge deutlich. Mit einer offensichtlichen und massiven Invasion in die Ukraine würde Russland diesen Status mit Sicherheit aufgeben.
Über den Experten:
- Dr. Janis Kluge ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe "Osteuropa und Eurasien" bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zu den Arbeitsschwerpunkten des Wirtschaftswissenschaftlers zählen russische Innenpolitik, Russland und China, die wirtschaftliche Entwicklung Russlands sowie Sanktionen und ihre Wirkung.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Janis Kluge
- Putin, V. (2021): Article by Vladimir Putin "On the Historical Unity of Russians and Ukrainians"
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