Die Frontlinie ist nur wenige Kilometer entfernt, der Alltag in der ostukrainischen Stadt Pokrowsk alles andere als sicher. Trotzdem halten viele Einwohner an ihrer Heimat fest. Wir haben mit ihnen gesprochen. Über die täglichen Herausforderungen und die Frage, warum sie trotzdem bleiben.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Joana Rettig . Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Will man aus der Donezk-Region Richtung Westen in die angrenzende Oblast Dnipropetrowsk gelangen, dauert die Fahrt nun deutlich länger. Bevor russische Truppen die ostukrainische Stadt Pokrowsk in den Fokus ihrer Offensivoperationen genommen hatten, war die Route durch die Stadt stark befahren.

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Jetzt weisen Schilder mit der englischen Aufschrift "Detour" darauf hin, dass man das Gebiet umfahren sollte. Kurz vor dem Ortseingang biegen Busse, Lkw und Privatautos nach rechts ab. Zu gefährlich wäre der eigentliche Weg.

Ruhe – und ein Rumoren in der Ferne

In der Stadt selbst wirkt an diesem Tag im September allerdings alles ruhig – den Umständen entsprechend. Aus der Ferne ist das Rumoren der intensiven Kämpfe russischer und ukrainischer Soldaten zu hören. Je weiter man gen Süden fährt, desto lauter wird es.

Jeden Tag rücken russische Streitkräfte weiter vor. Die Frontlinie ist nicht einmal mehr zehn Kilometer vom Stadtkern entfernt.

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Zerstörtes Gebäude in der Innstadt von Pokrowsk. © Joana Rettig

Anfang September schreibt der "Spiegel", die Strassen seien leer, die Geschäfte geschlossen. Doch an diesem Tag, Ende des Monats, wirkt es in der Innenstadt zunächst so, als sei alles beim Alten. Der Marktplatz ist einigermassen gut besucht. Ein Stand, der das traditionelle ukrainische Brotgetränk "Kwas" anbietet, alte Frauen, die Obst und Gemüse verkaufen, Schreibwaren- und Lebensmittelgeschäfte haben geöffnet, in einem Café treffen sich die Menschen, essen Hot Dogs. Selbst ein Shop für Elektrogeräte lässt Kundinnen und Kunden eintreten. Nur bleiben diese derzeit grösstenteils aus.

Wir haben uns mit den Menschen unterhalten, die noch in der umkämpften Stadt leben. Warum bleiben sie? Wie sicher fühlen sie sich? Und: Was müsste passieren, dass sie gehen? Das sind ihre Antworten:

Alina Suhaniak , 54 Jahre, wohnt im Norden der Stadt, wo sie ihre Kanister an einer UN-Wasserstation befüllt.

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Alina an einer Trinkwasser-Station im Norden der Stadt. © Joana Rettig

"Wir sind hier geblieben, und versuchen, normal weiterzuleben – auch wenn es keine Arbeit gibt. Unsere Kinder haben wir in eine andere Stadt geschickt, damit sie sicher sind. Aber wir haben kein Geld und wollen Pokrowsk auch nicht verlassen."

"Ich lebe seit 30 Jahren hier. Ich weiss auch nicht, was passieren müsste, um mein Zuhause zu verlassen – ich möchte einfach hier leben. Verstehen Sie das? Das ist mein Zuhause. Alles hier fühlt sich nach Heimat an. Ausserdem haben wir weder Geld noch irgendwelche anderen Möglichkeiten, um zu fliehen. Unsere Kirche ist hier, wir besuchen sie hier. Wir sind hier wie eine Familie."

Tomas, 63 Jahre, ist Georgier und lebt seit etwa 30 Jahren in der Ukraine. Ihn treffen wir in seinem Lebensmittelladen in der Innenstadt an.

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Tomas in seinem Lebensmittelladen in der Innenstadt. © Joana Rettig

"Meine Frau und ich sind sehr religiös, wir gehen in die Kirche, wir beten zu Gott. Und im Moment ist alles in Ordnung. Sie beschiessen uns, aber wir halten durch. Wir haben unsere Sachen vorbereitet, damit wir sofort gehen könnten, wenn es uns zu gefährlich wird. Aber wohin soll ich gehen? Ich bin 63 Jahre alt, niemand wartet auf mich."

"Leute sagen, man könne gut in Deutschland leben – aber nur bis man 60 Jahre alt ist. Danach will dir keiner einen Job geben. Ich kann ja nicht stehlen – ich bin kein Dieb. Ich kann nicht einfach zu Hause sitzen und nicht arbeiten. Ich muss arbeiten. Aber einen Laden wird mir dort niemand geben. Dann bekomme ich vielleicht Sozialleistungen – aber das will ich nicht. Ich muss mein eigenes Geld verdienen. Ausserdem bin ich zu alt, um Englisch oder Deutsch zu lernen. Und in meinem Alter will mich dort sowieso niemand haben. Was soll ich also im Ausland machen?"

"Sollten wir wirklich fliehen, werden wir nach Odessa oder Kiew gehen. Ich liebe Odessa. 2015, als der Krieg begann, habe ich ein Jahr lang in Odessa gelebt, ich kenne die Stadt also ein wenig."

Auch Ludmila, 60 Jahre, hat ihr Schreibwarengeschäft in der Innenstadt noch geöffnet.

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Ludmilla in ihrem Schreibwarengeschäft in der Innenstadt. © Joana Rettig

"Ich bin 60 Jahre alt und werde bald in Rente gehen. Als ich die Unterlagen für meine Rente eingereicht habe, das war am 30. August, war das Gebäude noch in Ordnung. Am Morgen des 31. August ging ich in der Nähe vorbei und alles dort war zerstört. Wie also ist meine Situation? Ich lebe und ich arbeite noch. Sie sagten, wir können noch eine Weile arbeiten. Wenn das nicht mehr geht, werden wir nach Dnipro gehen. Dort lebt meine Familie – mein Kind und meine Enkelkinder."

"Ich bin in dem kleinen Dorf Yelyzavetivka aufgewachsen (weniger als einen Kilometer von den aktiven Kämpfen entfernt, Anm. d. Red.). Pokrowsk kenne ich trotzdem sehr gut, denn ich bin hier zur Schule gegangen, auf ein Internat. 60 Jahre habe ich hier also gelebt, seit ich ein Kind war. Natürlich möchte ich meine Stadt und mein Zuhause nicht verlassen. Aber was kann ich tun? Man sollte bei seiner Familie bleiben – deshalb bitten mich mein Kind und meine Enkelkinder, zu ihnen zu kommen. Eigentlich möchte ich aber nirgendwo hingehen, es ist eine Schande, alles zurückzulassen, wofür ich mein Leben lang gearbeitet habe. Eine Schande. Aber mein Leben ist mir wichtiger."

Mykhailo Batrak ist 23 Jahre alt. Ihn treffen wir im Südwesten der Stadt an einem Obst- und Gemüsestand auf dem Markt.

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Das Haus von Mykhailo wurde zerstört. Jetzt lebt er wieder im Haus seiner Mutter. © Joana Rettig

"Ich habe den grössten Teil meines Lebens in der Oblast Donezk gelebt, 22 Jahre lebe ich schon hier in Pokrowsk. Vor etwa einem Jahr wurde mein Zuhause zerstört. Jetzt lebe ich bei meiner Mutter. Wir überlegen schon seit langem, die Stadt zu verlassen, weil die Situation zu gefährlich wird. Die Russen kommen immer näher und tun schreckliche Dinge. Sie töten Zivilisten."

"Wir haben hier nichts zu tun, es gibt keine Arbeit in der Stadt. Früher habe ich in den Minen gearbeitet. Dann habe ich mir das Bein gebrochen. Sie wollten mir keinen richtigen bezahlten Krankenstand geben. (In der Ukraine eine Rente für berufsbedingt ernsthaft erkrankte Bergleute, Anm. d. Red.). Und ich musste diesen Job aufgeben."

Nina, 70 Jahre, wollte kein Foto von sich machen lassen. Sie verkauft Tomaten in der Nähe des Bahnhofs von Pokrowsk.

"Nun, meine Situation ... Sie alle kennen doch die Situation besser als ich. Wissen Sie, es ist gut und es ist schlecht hier. Mal dies, mal das. Aber wir hoffen, dass alles besser wird. Irgendwann werden wir die ukrainische Flagge wieder überall sehen, in jedem Teil unseres Landes! Alles wird gut! Ich lebe seit einem Monat hier. Ich bin aus Myrnohrad hierher geflohen, denn als die Russen Hrodivka zerstört haben, musste ich gehen. Myrnohrad liegt sehr nah bei Hrodivka, das war uns dann zu gefährlich. Ob ich hier weggehen werde? Ich glaube nicht."

Volodymyr verkauft – ebenfalls im Südwesten Pokrowsks – Elektrogeräte und Handyzubehör. Er ist 20 Jahre alt.

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Volodymyr in einem Elektronik-Zubehör-Geschäft im Südwesten der Stadt. Dort arbeitet er als Kassierer. © Joana Rettig

"Ich habe an der Universität Jura studiert, aber das war alles vorbei, als sie in unser Land einmarschierten. Seit vier Monaten habe ich jetzt diesen Job. Wir haben nicht viele Kunden, aber wir halten durch."

"Ich fühle mich in dieser Stadt überhaupt nicht sicher, habe grosse Angst. Gestern Abend wurden wir von 21 bis 23 Uhr mit allen möglichen Raketen und Drohnen beschossen. Auch tagsüber gibt es Raketenangriffe, aber weniger als nachts. Die Menschen versuchen, die Stadt zu verlassen und zu evakuieren. Aber man gibt uns nicht viel Zeit für eine Evakuierung (In Pokrowsk dürfen sich die Menschen nur von 11 bis 15 Uhr draussen bewegen, Anm. d. Red.)."

"Ich würde die Stadt wirklich gerne verlassen, aber ich habe noch einen Job. Also bleibe ich vorerst. Bis zum Ende des Monats auf jeden Fall. Meinen Vater und meinen jüngeren Bruder haben wir in einen anderen Oblast geschickt. Meine Mutter und ich bleiben erst einmal hier. Anfang des nächsten Monats, hoffe ich, werden wir fliehen."

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Wir treffen eine ältere Frau in einem Schreibwarengeschäft. Sie will weder ihren Namen angeben noch fotografiert werden – aber sie hat viel zu sagen. Sie ist 63 Jahre alt.

"Sie wollen wissen, warum wir in der Stadt bleiben? Sie wollen verstehen, warum wir hier bleiben, um zu sterben? Vielleicht können Sie uns ja evakuieren und das alles mit Ihrem eigenen Geld bezahlen! Ich habe eine Familie, die aus drei Personen besteht. Für jede einzelne müsste ich 500 Euro aufbringen, um fliehen zu können (Etwas Derartiges bestätigt sich durch Gespräche mit Polizei und Verwaltung nicht, Anm. d. Red.). Und wie werden wir dann weiterleben? Ich habe 3.800 Griwna Rente (umgerechnet rund 83 Euro, Anm. d. Red.). Mit welchem Geld sollen wir überleben? Lassen Sie mich in Ihrem Haus leben? Natürlich nicht, das wäre für Sie ja unvorteilhaft!"

"Junge Menschen können so etwas nicht verstehen. Ich bin über 60 Jahre alt, wohin soll ich bitte gehen? Sie wollen wissen, warum wir alle hier bleiben? Weil wir alle kein Geld haben! Meine Rente ist zu klein - das ist der Grund! Wenn ich fliehe, werde ich eine Wohnung in einer anderen Stadt bezahlen müssen, 15.000 Griwna. Können Sie rechnen? Ja? Dann rechnen Sie!"

Verwendete Quellen

Trump zu Selenskyj: "Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu Präsident Putin"

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Bei einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj in New York sagte der republikanische US-Präsidentschaftskandidat mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, im Falle eines Wahlsieges werde er das Problem "wirklich schnell lösen".
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