Eugenii Puhatsch hatte sein Zuhause lange nicht verlassen wollen. Sein Dorf war im Jahr 2022 direkte Frontlinie, doch er und seine Frau lebten ihr Leben weiter. An die Geräusche gewöhnten sie sich mit der Zeit – bis eine Explosion die beiden zur Besinnung rief. Heute ist der 73-Jährige wieder in seinem Haus, in das kurz nach seiner Flucht eine Rakete einschlug.

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Das Wohnzimmer ist nicht grösser als 3,5 auf 3,5 Meter. In der Mitte des Raums steht ein Stuhl: Farbflecken und Staub – die Schrauben lösen sich von der Lehne. Darauf sitzt Eugenii Puhatsch, sonst ist der Raum leer. Zwei Wände des Zimmers sind noch original, von irgendwann aus den 1970-er Jahren, erzählt der Ukrainer. Zwar wurden sie renoviert – Risse, die sich zwei Tage zuvor noch durch Mauern zogen, sind mittlerweile zugespachtelt. Die weisse Farbe leuchtet fast schon, verglichen mit dem Rest des Hauses. Doch die zwei anderen Wände strahlen noch heller.

Frisch eingebaut wurden sie. Neu gedämmt und gestrichen. Die Eingangstür wurde einige Zentimeter nach links verschoben. Etwas ungewohnt ist das zwar für Eugenii Puhatsch, aber man gewöhnt sich ja schnell an Neues. Vor wenigen Wochen noch prangte in der Ecke ein grosses Loch. Dort, wo Puhatsch sitzt, explodierte vor etwas mehr als einem Jahr ein Artilleriegeschoss. Und er spricht darüber als berichtete er von einem etwas unspektakulären Fussballspiel.

Normalität. Kaum Regung. Alles in bester Ordnung.

Explosionen in Donezk-Region bereits Alltag

Über Puhatsch schimmert schwach das gelbe Licht einer Deckenleuchte durch den schmutzigen Stoff des Lampenschirms. Hin und wieder sind dumpfe Explosionen aus der Ferne zu hören. "Sie entminen gerade das Gebiet", erklärt er. Seinen Garten solle man lieber noch nicht betreten. Im Krieg wird die Gefahr zum Alltag. In den Frontgebieten, etwa in der Donezk Region – im Osten der Ukraine – macht sich dies schnell bemerkbar. Jene Menschen, die noch immer dort leben, wo sich russische und ukrainische Soldaten gegenüberstehen, nehmen die neue Situation an. Explosionen sind meist nur noch Nebengeräusche. Angst spüren sie kaum noch. Der Alltag muss weitergehen.

Auch für Eugenii Puhatsch. Der 73 Jahre alte Ukrainer lebt in dem kleinen Dorf Tetyanivka, nordöstlich von Swjatohirsk, im Oblast Donezk. Die Kleinstadt Swjatohirsk war bis September 2022 von russischen Truppen besetzt. Der Fluss Siwerskyj Donez, der eine Grenze zwischen Tetyanivka und Swjatohirsk bildet, trennte damals ukrainisches und russisch kontrolliertes Gebiet. Puhatschs Dorf war erste Kontaktlinie. Kampfgebiet.

Als der Beschuss damals im Frühling 2022 begann, waren sowohl Eugenii Puhatsch als auch seine Frau Valentyna zu Hause. "Unsere Kinder waren bereits nach Deutschland geflohen", erzählt er. "Wenn sie uns nach der Situation vor Ort fragten, sagten wir ihnen, alles sei in Ordnung." Doch in Wahrheit hatten sie grosse Angst. "Meine Frau weinte zu Beginn fast ununterbrochen", sagt Puhatsch.

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Als Russland im Juni 2022 das berühmte Kloster von Swjatohirsk in einem Luftangriff beschoss, erzählt er, war das sehr beängstigend. "Als die Flugzeuge kamen, war es plötzlich taghell – mitten in der Nacht." Er beobachtete die Explosion von seinem Schlafzimmerfenster aus. Noch bevor er das beschädigte Gebäude selbst sehen konnte, schickten ihm seine Kinder Fotos davon. "Die hatten sie aus den Nachrichten", erzählt er. "In diesem Moment dachten wir schon daran, zu fliehen."

Doch es kam anders.

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Eugenii Puhatsch inmitten der restlichen Trümmer seines Hauses auf dem Hof. © Joana Rettig

"Ich fuhr mit meinem Fahrrad dorthin, wollte es mit meinen eigenen Augen sehen. So viele Leute aus meinem Dorf waren da. Sie weinten. Kinder sammelten Schrapnellteile, andere Leute rannten in ihre Keller, nahmen ihre Matratzen mit." Chaos breitete sich aus. Dennoch beschlossen Eugenii Puhatsch und seine Frau zu bleiben.

"Wir hatten unseren Garten, unsere Kaninchen, die Bienen – eine Menge Dinge, um die wir uns kümmern mussten", sagt er. Hier, in seinem Dorf, ist er zu Hause, kennt er sich aus, kennt die Menschen. In der Umgebung nennt man ihn nur Onkel Zhenya. "Wir dachten, wir werden uns schon daran gewöhnen." Und so war es auch.

"Wir sahen die Raketen über uns fliegen. Jeden Tag"

"Unser Militär war bergauf", sagt Puhatsch und deutet mit dem Daumen über seine Schulter. Puhatschs drei Zimmer grosses Haus liegt an einem Hügel, auf halber Strecke zur Spitze. 300, vielleicht 400 Meter weiter oben hatte eine ukrainische Artillerieeinheit ihren Stützpunkt. Die Russen waren bergab, gleich auf der anderen Seite des Flusses. "Wir sahen die Raketen über uns fliegen. Jeden Tag." Eugenii Puhatsch erzählt davon in aller Ruhe. Ohne Furcht, ohne Tragik in der Stimme. Rein informativ. So war das eben. Damals. Vor nicht allzu langer Zeit.

"Wenn ich das Pfeifen der Raketen hörte, ging ich zu meiner Frau, um ihr zu sagen, sie solle ins Haus kommen." Sie sei meistens draussen gewesen, sagt er. Um im Garten zu arbeiten, sich um die Kaninchen zu kümmern, ihren Hund Filja zu füttern. "Aber sie sagte immer nur: 'Lass mich das hier noch fertig machen, dann komme ich.'" Einen Keller haben die Puhatschs nicht.

Dass wir Menschen uns an solche Zustände gewöhnen, erklärt der Psychologe Mark Laukamm in einem Gespräch mit der Schweizer Tageszeitung "St. Galler Tagblatt", sei normal. "Das muss so sein, nur so werden wir wieder handlungsfähig", sagt er. Auch, dass Eugenii Puhatsch das beschossene Kloster erst einmal selbst sehen wollte, ist nach Laukamms Erläuterung, ein ganz üblicher Prozess. Meist gebe es zuallererst ein Bedürfnis nach Information. "Wissen schafft ein Sicherheitsgefühl", sagt der Psychologe, "und man erfährt, was nun zu tun ist."

Rakete trifft Entscheidung zur Flucht

Für das Ehepaar Puhatsch ging das Leben weiter, auch im Krieg. Zwar hätten ihre Kinder immer wieder versucht, sie zur Flucht zu überreden. "Sie riefen uns die ganze Zeit an, weinten und sagten, dass uns jemand mitnehmen wird", sagt Eugenii. Aber das wollten sie nicht. Eines der Kaninchen sei schwanger gewesen. Sie wollten es nicht zurücklassen.

Am Ende, sagt Eugenii Puhatsch, war es eine Rakete, die Entscheidung traf. Ein russisches Geschoss flog gerade über ihren Garten, als es die ukrainische Luftabwehr in der Luft zerstörte. "Die Explosion war direkt über uns", sagt Puhatsch. Sie brachten die Kaninchen weg, die Bienen blieben in ihren Stöcken. Als sie gingen, mussten sie den Hund Filja zurücklassen. Er blieb an der Kette im Hof, sagt Puhatsch. Hätten sie ihn freigelassen, wäre er ihnen nachgelaufen. Ein Nachbar habe ihn später befreit. Das Grundstück hat Filja allerdings nie lange verlassen. Auch jetzt liegt er in seiner Hundehütte im Hof.

Die Puhatschs flohen in die Türkei, waren nicht lange dort, als sie die Nachricht bekamen: Ihr Haus wurde getroffen. "Mein Nachbar sagte mir, dass ein Geschoss eingeschlagen sei. Zu dieser Zeit gab es kein Wasser und die einzige Möglichkeit, das Feuer zu löschen, war Erde." Die Kaninchenkäfige, die Bienenstöcke, der Garten – alles brannte. Als er davon erfuhr, sagt Puhatsch heute, hatte er diesen einen Gedanken: "Auch wir hätten verletzt oder sogar getötet werden können." Deshalb sei er froh, dass die Rakete über ihrem Haus damals die Entscheidung für sie getroffen hatte. "Unser Leben ist mehr wert als unser Haus."

Ohnmacht, Abschottung oder Verharmlosung

Wie der Psychologe Laukamm im "St. Galler Tagblatt" berichtet, ist auch in Krisenzeiten eine richtige Balance wichtig: Der Schockmoment helfe, um sich an eine neue Situation zu gewöhnen. Später pendle man zwischen dem Akzeptieren der neuen Tatsachen und dem Optimismus, dass es trotz allem gut kommen wird. Gelinge diese Balance nicht, drifteten die meisten in ein Extrem ab: Ohnmacht, Abschottung oder Verharmlosung.

Seit acht Wochen ist Eugenii Puhatsch nun wieder in seinem Dorf Tetyanivka. Seine Frau Valentyna ging nach Russland, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Aus der Verharmlosung von Explosionen und Schüssen wurde das Ehepaar noch frühzeitig herausgerissen.

Verwendete Quellen:

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