Einer der grausamsten Kriegsschauplätze in der Ukraine ist als "Hölle von Bachmut" bekannt geworden. Zehntausende haben hier in monatelangen Kämpfen ihr Leben gelassen, bis die Stadt schliesslich unter russische Kontrolle fiel. Doch das Blatt könnte sich wieder wenden. Russland fällt die Verteidigung des Trümmerfelds zunehmend schwerer, während Kiew Angriff um Angriff fährt.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Sie ist Schauplatz der wohl grausamsten Schlacht im Ukraine-Krieg: die Bezirkshauptstadt Bachmut im ostukrainischen Donbass. Vor dem Krieg ein mittelgrosser Verkehrsknotenpunkt, nach den monatelangen Kämpfen zwischen Ukrainern und Russen um die Kontrolle liegt die Stadt heute in Schutt und Asche.

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Die Ukraine hat nach eigenen Angaben vom Montag in den vergangenen Tagen sieben Quadratkilometer russisch besetztes Gebiet in der Gegend um Bachmut zurückerobert. Die Rückeroberung sei "infolge der verbesserten Positionierung und Ausrichtung der Frontlinie" gelungen, erklärte die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar im Online-Dienst Telegram. Zur aktuellen Entwicklung auf dem Schlachtfeld ergänzte Maljar, in der nordostukrainischen Region Charkiw seien russische Kräfte hingegen seit Ende der vergangenen Woche "aktiv vorgerückt".

Schätzungen zufolge hat der erbitterte Kampf um die in einer grünen Hügellandschaft gelegene Stadt weit über 15.000 militärische Todesopfer gefordert – die verlustreichste Schlacht in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Dabei ist die "Hölle von Bachmut" zum wichtigen Symbol geworden. Die russische Propaganda zeichnet einen hochgelobten Sieg.

Schlacht war nie wirklich beendet

Im Frühjahr hatten sich die ukrainischen Truppen unter dem Druck der russischen Angriffe aus der Stadt zurückgezogen – das Trümmerfeld fiel an Moskau. Vor allem die Wagner-Truppen hatten ihren Teil dazu beigetragen, sie selbst verliessen im Juni die Stadt. Doch schon damals war klar: Beendet ist die Schlacht um Bachmut nicht. Kiew macht sich seitdem Hoffnung auf Befreiung – und fährt unermüdlich Gegenangriffe auf die geschwächten russischen Flanken.

Sowohl im nördlichen als auch im südlichen Umland sind der Ukraine bereits Gegenschläge gelungen, vor allem im südlichen Bereich rücken die ukrainischen Truppen immer weiter voran. Kiews Soldaten haben viele strategische Höhen besetzt – und beschiessen von dort aus die Russen in Bachmut.

Politische und psychologische Bedeutung Bachmuts wichtig

Obwohl vor einem Monat die lange angekündigte Grossoffensive der Ukrainer im Süden des Landes gestartet ist, erzielt Kiew dort nicht die meisten Geländegewinne. Zuletzt konnte Kiew keine auf der Karte erkennbaren Fortschritte am Asowschen Meer vermelden. Die Frontlinie im Gebiet um Bachmut ist stärker in Bewegung, knapp 100 Quadratkilometer wurden seit Mai zurückerobert. Nun soll die Ukraine kurz vor der Einnahme des Vorortes Klischtschijiwka stehen. Hat die zweite "Schlacht um Bachmut" begonnen?

Die Verteidigung um Bachmut erweist sich für Russland jedenfalls immer schwieriger. Für die Einnahme der Stadt hat Russlands Armee mit hohen Verlusten bezahlt und ihre Fähigkeit für zeitnahe Grossoffensiven verloren. Zwar ist Bachmut ein Verkehrsknotenpunkt, allerdings strategisch betrachtet eher ein Etappenziel von geringer strategischer Bedeutung. Politisch und psychologisch ist Bachmut allerdings enorm wichtig – es ist die einzige grössere Stadt, die Moskau im letzten Jahr hinzugewinnen konnte.

Russland verfügt über weniger Schlagkraft im Raum Bachmut

"Die russischen Verteidigungsstellungen um Bachmut sind nicht so stark befestigt, wie im Süden. Russland hat die Gebiete erst kürzlich eingenommen und hatte wenig Zeit, Vorbereitungen zu treffen", merkt Militärexperte Gustav Gressel an. Nach dem überstürzten Abzug der Wagner-Truppen musste Moskau Löcher stopfen.

Die Möglichkeit der Ukrainer, um Bachmut Gegenangriffe zu lancieren, sei deshalb grösser als an den Küstenstädten am Asowschen Meer. "Die Organisation russischer Verteidigung ist in Bachmut chaotischer, als in anderen Gebieten, wo sich die russische Armee schon länger befindet", sagt Gressel.

Tatsächlich verfügt Russland im Raum Bachmut nicht mehr über grosse Schlagkraft. Schätzungen gehen von unter 20.000 Soldaten aus, die aus fünf Militärbezirken des Landes zusammengewürfelt wurden.

Rückeroberung Bachmuts im Visier

Oberstleutnant a. D. Oleksij Melnyk kam deshalb im Gespräch mit "ntv" zu dem Schluss: "Bachmut ist im Moment eine vielversprechende Richtung für die Ukraine." Eine Rückeroberung Bachmuts wäre "ein gewaltiger politischer und psychologischer Erfolg."

Der käme Kiew gut gelegen: "Aus ukrainischer Sicht rennt die Zeit", sagt auch Experte Gressel. Der Sommer gehe seinem Höhepunkt zu und Kiew habe sich an den Stellen, an denen es wirklich wichtig sei, noch nicht an die russischen Hauptstellungen herangeschoben. "Trotz vieler Ankündigungen zeigt sich noch nicht wirklich etwas", sagt Gressel.

Bachmut sei vor diesem Hintergrund vor allem zum Binden russischer Reserven gedacht – Truppen, die Moskau im Umland von Bachmut benötigt, kann es nicht aus der Region abziehen und an die Südfront verlegen. "Man greift im Raum Bachmut an, man nutzt Gelegenheiten. Ein Ziel ist es auch, sehr gute Beobachtungs- und Feuermöglichkeiten auf russische Stellungen zu bekommen", sagt Gressel.

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Kein Selbstläufer für die Ukrainer

Die Angriffe seien stärker opportunistisch als an anderen Orten. "Man schaut, dass man die Schwäche des Gegners ausnutzt, mehr, als dass man gross im Voraus geplante Offensiven durchführt", erläutert Gressel.

Aus Sicht des Experten will die Ukraine Russland eher zur Aufgabe von Bachmut zwingen, anstatt es selbst einzunehmen. Letzten Endes könnte den Russen im Raum Bachmut das drohen, was einst den Ukrainern zum Verhängnis wurde: Eine Einkreisung beziehungsweise schrittweise Abschnürung der Stadt.

Doch Gressel trübt auch den Eindruck eines Selbstläufers: "Davon sind die Ukrainer eine Zeit entfernt – auch wenn sie derzeit gute Feuermöglichkeiten haben, die Russen in Schach halten und Gegenangriffe abwehren."

Russischen Nachschub angreifen

Die Russen versammelten derzeit relativ starke Kräfte im Luhansker Oblast. "Dort sind sie wieder in der Offensive tätig und versuchen vor allem im Raum Kremina, aber auch Avdiivka und Marinka wieder vorzustossen", beobachtet Gressel. Zwar seien die meisten Angriffe bislang ergebnislos geblieben, man sehe aber, dass die russische Armee daran denke, in die Offensive zu gehen und den Druck auf die ukrainische Armee wieder zu erhöhen.

Die Ukrainer seien vor allem darin erfolgreich, den russischen Nachschub anzugreifen – Voraussetzung für einen späteren Erfolg. Schon 2014, nach Beginn der Aufstände prorussischer Separatisten, war Bachmut Schauplatz heftiger Kämpfe. Damals gewannen die Ukrainer schrittweise wieder die Oberhand. Ob das auch 2023 gelingt, wird sich erst noch zeigen müssen.

Zur Person: Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmässig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Aussenpolitik bei Grossmächten.

Verwendete Quellen:

  • Agence France-Presse (afp)
  • nzz.ch: Die grössten militärischen Erfolge erzielen die Ukrainer derzeit an einem unerwarteten Ort – in der Region Bachmut
  • n-tv.de: Oleksij Melnyk im Interview"Bachmut ist eine vielversprechende Richtung für die Ukraine"
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