• In den Medien mehren sich die Berichte, nach denen Russland Zivilisten aus der Ostukraine deportiere und in Filtrationslager bringe.
  • Längst nicht alle westlichen Organisationen machen sich diese Behauptung zu eigen.
  • Doch Russland hätte gleich mehrere Motive.

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Die Vorwürfe, die Wolodymyr Selenskyj während einer Fernsehansprache Ende April in Richtung Kreml schmetterte, waren selbst für einen Präsidenten im Kriegsmodus ungewöhnlich robust. Russland baue in den besetzten Gebieten "Konzentrationslager", in die Ukrainer gebracht würden, um sie anschliessend auf russisches Territorium zu verschleppen. "So wie sie die Nazis seinerzeit gebaut haben", sagte Selenskyj.

Die Analogie zu den Verbrechen der Nationalsozialisten mag unpräzise sein, gleichwohl ist die Furcht vor Verschleppung, die viele Ukrainer im Osten des Landes empfinden, real. Seit Wochen mehren sich die Berichte, dass Russland dort mit elementaren Grundsätzen der Genfer Konvention breche, indem es Menschen zwangsdeportiere und Zivilisten gegen ihren Willen umsiedle. Auch Erschiessungen und Folter in sogenannten Filtrationszentren, in denen Ukrainer unter katastrophalen Bedingungen auf ihre Gesinnung geprüft würden, zeichnen ein düsteres Bild für die Menschen in der Region.

So berichtete die ukrainische Menschenrechtsbeauftrage Lyudmyla Denisova, dass bis zu zwei Millionen Ukrainer, darunter 200.000 Kinder, bislang nach Russland zwangsdeportiert wurden. Unter anderem sollen 308 Menschen aus dem schwer zerstörten Mariupol in eine mehrere tausend Kilometer entfernte Stadt im russischen Fernen Osten gebracht worden sein.

Auch der für gewöhnlich gut informierte US-Botschafter bei der OSZE, Michael Carpenter, kabelte Mitte Mai nach Washington, dass die russischen Streitkräfte seit Beginn der Invasion Zehntausende Menschen verschleppt hätten. "Russlands Soldaten verlegen gewaltsam Zivilisten, deren Häuser, Städte und Dörfer monatelang gnadenlos mit Granaten, Raketen und Bomben bombardiert wurden, nach Russland – genau das Land, das all das unnötige Leid verursacht", sagt Carpenter. Und Russland selbst? Meldet zwar, dass seit Kriegsbeginn rund 1,1 Millionen Menschen die Ukraine gen Russland verlassen hätten, das jedoch freiwillig.

Handlungen Russlands passen zum Gesamtnarrativ

Der Ukraine-Experte Andreas Umland bezweifelt das, wenngleich es solche Einzelfälle geben mag. Insgesamt bediene Russland mit der Behauptung, die Menschen flüchteten freiwillig aus der Ukraine, ein Narrativ gegenüber der eigenen Bevölkerung, das bereits seit Beginn der Invasion gilt: Der als "Spezialoperation" getarnte Krieg diene dem Schutz der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine, die von einem faschistischen Regime in Kiew drangsaliert werde. Die Behauptung, dass sich Hunderttausende Ukrainer freiwillig nach Russland aufmachen, passt zu dieser Erzählung.

Umland weist jedoch darauf hin, dass dem Narrativ ein logischer Widerspruch zugrunde liegt. "Die Möglichkeit nach Russland umzusiedeln bestand für die Bürger von Mariupol schon seit 2014", erklärt der Experte. "Wenn dieser angebliche faschistische Terror der Ukraine gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung nun schon seit acht Jahren stattfindet – warum haben die Menschen dann nicht früher die Flucht ergriffen, sondern flüchten gerade jetzt, unter diesen Bedingungen?"

Es spreche mehr dafür, dass vielen Ukrainern in den besetzten Gebieten keine andere Wahl gelassen wird, als die Fluchtroute aus den umkämpften Gebieten nach Russland zu wählen, weil Moskau keine Routen auf ukrainisches Territorium aufmache. Freiwillig im Sinne der Genfer Konvention wäre eine solche Flucht nach Russland dann nicht.

Der Sicherheitsexperte und ehemalige Militär Gustav Gressel sieht noch ein zweites Motiv hinter dem russischen Verhalten: "Die russische Besatzungsmacht will die besetzten Gebiete vollständig de-ukrainisieren, also jede Art der kulturellen, sozialen, linguistischen Andersheit vernichten", sagt Gressel. "Es kommt deshalb zur Trennung von Familien, Kinder werden russisch-nationalen Eltern zur Umerziehung überlassen und Menschen zur Zwangsarbeit nach Russland verschleppt." Gressel sagt: "Aus meiner Sicht ist das, was in den besetzten Gebieten passiert, glatter Völkermord."

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Augenzeugen berichten von Entführungen

Die Beschreibungen beider Experten decken sich mit dem, was Augenzeugen aus den besetzten Gebieten zu berichten haben. So erzählte eine Frau aus Mariupol dem britischen "Guardian" im April: "Am 15. März stürmten russische Truppen in unseren Luftschutzbunker und befahlen allen Frauen und Kindern, herauszukommen. Es gab keine Wahl." Eine weitere Frau aus Mariupol, die gegen ihren Willen nach Russland gebracht wurde, sagte der "Washington Post": "Auf allen Etappen der Reise wurden wir wie Gefangene oder Kriminelle behandelt. Ich fühlte mich wie ein Kartoffelsack, der herumgeworfen wurde." Und eine Person aus Mariupol sagte der britischen BBC: "Wir alle wurden gewaltsam entführt."

Trotz der Berichte darüber, wie Russland die Zivilbevölkerung im Osten der Ukraine malträtiert, sind andere Stimmen vorsichtiger, wenn es darum geht, von Verschleppungen zu sprechen. So lässt etwa Amnesty International über eine Sprecherin ausrichten: "Wir konnten die Berichte, wonach russische Streitkräfte Tausende von Ukrainern gegen ihren Willen nach Russland gebracht haben sollen, bislang nicht unabhängig verifizieren." Und auch die russische NGO "Civic Assistance Committee", die sich für Flüchtlinge in Russland einsetzt, will nicht von Zwangsdeportationen sprechen.

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"Bisher haben wir noch nie von jemandem gehört, dass er gewaltsam abgeschoben wurde", sagt Nikolay Voroshilov vom Civic Assistance Committee. "Es ist nicht so, dass diese Menschen an einem Bahnhof stehen und viele Möglichkeiten haben, wohin sie gehen können. Sie haben oft nur eine Möglichkeit, aus dem Kriegsgebiet herauszukommen, und das ist der Weg über die russische Grenze."

Als Selenskyj von "Konzentrationslagern" sprach, bezog er sich auf Filtrationslager, in denen Russland offenbar gezielt auf die Suche nach sogenannten Kollaborateuren geht. In ad-hoc eingerichteten Lagern entlang von Fluchtrouten und in permanenten Lagern, die der Filtration ganzer Bevölkerungsschichten eroberter Städte dienen, sollen Zivilisten teils tagelang und unter katastrophalen Bedingungen festgehalten werden, um sie auf Verbindungen zur Regierung, zum Militär oder auf Anzeichen von Widerstand gegen den Angriffskrieg zu überprüfen. Augenzeugen berichten in diesem Zusammenhang immer wieder von Schlägen und anderen Foltermethoden, auch von Erschiessungen war bereits die Rede.

Was passiert mit denen, die es nicht durchs Camp schaffen?

Das Konzept dieser Camps, in denen die Menschen und ihre Handys durchsucht werden, Fingerabdrücke von ihnen genommen werden und bei Männern teils nach Tattoos und Waffen gesucht wird, ist nicht neu. Bereits in der Sowjetunion wurde in derartigen Camps überprüft, ob Sowjets, nachdem sie in deutscher Gefangenschaft waren, der sowjetischen Ideologie weiter treu geblieben sind. Wer den Test nicht bestand, landete im Gulag.

Dafür, so berichtete es ein Zeuge der BBC, reichen heute bereits das Foto einer ukrainischen Flagge und einer proukrainischen Demonstration auf dem Privathandy. Auch Kontakte zu Journalisten und dem ukrainischen Militär würden als Verrat gelten und als Grund, um die Flucht in ukrainisches Gebiet zu verweigern.

Was mit solchen Menschen passiert, ist unklar – doch es gibt Anhaltspunkte, insbesondere wenn es um Aktivisten, Zivilisten und Politiker geht. Einer der ersten Prominenten war der inzwischen wieder freigelassene Bürgermeister von Melitopol, Iwan Fedorow. Er wurde laut eigener Aussage während seiner sechstägigen Verschleppung dazu aufgefordert, die Proteste zu unterbinden und mit den russischen Besatzern zusammenzuarbeiten. Fedorow hatte Glück, er kam wieder frei. Nikolay Voroshilov vom 'Civic Assistance Committee' ist mindestens ein Mann bekannt, den es vermutlich schlimmer traf. Er wird nach einem Aufenthalt in einem Filtrationscamp bis heute von seiner Familie gesucht.

Über die Experten:
Dr. Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmässig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Aussenpolitik bei Grossmächten.
Dr. Andreas Umland ist Analytiker am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien des Schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten. Er hat Russisch, Geschichte und Politikwissenschaft studiert.

Verwendete Quellen:

  • Statement von Amnesty International-Sprecherin
  • Gespräche mit Dr. Andreas Umland und Dr. Gustav Gressel
  • Statement von Nikolay Voroshilov, Civic Assistance Committee
  • Kyiv Post: Russian Filtration Camps Are a War Crime
  • BBC: War in Ukraine: Ukrainians deported to Russia beaten and mistreated
  • Washington Post: Ukrainian refugees in Russia report interrogations, detention and other abuses
  • U.S. Department of State: Online Press Briefing with U.S. Ambassador to OSCE Michael Carpenter
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