- Die ukrainische Parlamentsabgeordnete Inna Sowsun war Ende April nach Deutschland gereist, wo sie um Hilfe für ihr Heimatland warb und sich mit Bundestagsabgeordneten aller Parteien traf.
- Im Interview mit unserer Redaktion erzählt Sowsun, was die Parlamentarier am meisten interessierte.
- Und die Oppositionspolitikerin erklärt, warum sie gegenwärtig nur eine militärische Lösung des Krieges in der Ukraine sieht und wie sich ihr Bild von Wolodymyr Selenskyj verändert hat.
Unsere Redaktion erreicht Sowsun am Montagnachmittag per Videocall. Noch ehe das Bild zu sehen ist, startet der Ton. Wind bläst, Vögel zwitschern, eine Metalltür knarzt. Dann erscheint Inna Sowsun auf dem Bildschirm, sie sitzt vor einem Haus.
Guten Tag, Frau Sowsun. Es sieht so aus, als sässen Sie irgendwo auf dem Land. Wo befinden Sie sich gerade?
Inna Sowsun: Ich bin am Haus meiner Eltern, etwas ausserhalb von Kiew.
Um sich dort ein wenig auszuruhen?
Es wurde uns geraten, wenn möglich die Stadt am 8. und 9. Mai zu verlassen, weil ein erhöhtes Risiko von Raketenangriffen besteht. Meine Eltern wohnen nur 30 Minuten Fahrzeit von Kiew entfernt. Ich habe also die Gelegenheit genutzt, um meinen Vater zu sehen – und um die Zeit nicht in einem Schutzraum oder Bunker verbringen müssen.
Wie viele Luftalarme gibt es dieser Tage in Kiew?
Das ist wirklich merkwürdig. Da war ein Luftalarm vor vier Stunden und kein einziger in der Nacht, das ist wirklich ungewöhnlich. Ehrlich gesagt haben wir sehr intensive Attacken erwartet, so wie am Sonntag, als wir sieben Warnungen hatten. Der erste Alarm ertönte um 1:00 Uhr am frühen Morgen und der letzte um 23:00 Uhr in der Nacht.
Sowsun hält ihr Smartphone in die Kamera und scrollt durch die App, die automatisiert warnt und alle Alarme protokolliert.
"Mittlerweile haben wir uns an die Luftalarme gewöhnt"
Tatsächlich kursierten ja zahlreiche Gerüchte, dass etwas am 9. Mai passiert.
Ja, mittlerweile haben wir uns aber an die Luftalarme gewöhnt. Die Leute gehen auch nicht mehr jedes Mal in den Luftschutzbunker, weil es ihren Alltag ständig unterbricht und das Risiko minimal zu sein scheint, zumindest in Kiew. Die Behörden haben allerdings mit Nachdruck allen Bewohnern gesagt, sich an diesen zwei Tagen (8. und 9. Mai, Anm. d. Red.) bei Alarm in die Schutzräume zu begeben. Zugleich haben viele Menschen so wie ich die Stadt verlassen. Ich helfe meinem Vater, die Schäden am Haus zu reparieren.
Sowsun kippt den Laptop so, dass der Dachstuhl zu sehen ist, in dem ein grosses Loch klafft. Dort sei ein Geschoss eingeschlagen, erzählt sie. Dann zeigt Sowsun ein Fenster im Erdgeschoss, das zersplittert ist. Insgesamt seien fast ein Dutzend Scheiben am ganzen Haus kaputt.
Wie ist die Situation gerade in der Ukraine?
Die Situation im Osten der Ukraine ist sehr, sehr schlecht. Der russische Angriff erfolgt viel chaotischer als der Vormarsch auf Kiew. Die Russen sind im Osten ziemlich weit vorgedrungen und versuchen die Regionen Luhansk und Donezk vollständig zu kontrollieren. Sie feuern mit der gesamten Artillerie, die sie dort haben. Ich habe in den vergangenen Tagen mit zwei Leuten gesprochen, die von dort geflohen sind. Beide sagten mir: "Niemand kann sich vorstellen, was dort passiert."
Was heisst das?
Es sterben sehr viele Menschen. Wir sind stolz auf die Armee, wir sind stolz auf das, was sie im Norden der Ukraine erreicht hat. Aber die russischen Streitkräfte sind so stark. Alles, was sie machen, ist Menschen zu töten, um in die nächste Stadt vorzurücken. Nur wenn sie einen Ort völlig zerstört haben, und nur dann, schaffen sie es, Kontrolle über ihn zu erlangen. Aber das bedeutet natürlich, dass bis dahin Tausende sterben.
"Russland kämpft aktuell nur, um weiterzukämpfen"
Was, glauben Sie, ist Russlands Hauptziel? Geht es nur um die zwei ukrainischen Regionen Luhansk und Donezk oder um mehr?
Wladimir Putin hat bei seiner Rede am 9. Mai nichts dergleichen gesagt. Ich glaube, die russische Führung hat im Moment gar kein Ziel, was sie verkünden könnte. Aber genau das ist das Schlimmste! Wir, die Menschen in der Ukraine, verstehen nicht, was sie tut und was sie will. Wollen Sie den kompletten Donbass kontrollieren? Aber wozu braucht sie dann die Südukraine? Und warum bombardiert sie Kiew? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Ich glaube, Russland kämpft aktuell nur, um weiterzukämpfen. Und das ist die schlimmste Art von Kampf, weil es kein Ende gibt. Ich weiss gar nicht, ob Russland aktuell überhaupt einen Sieg verkünden könnte.
Wie könnte überhaupt ein Sieg Russland aussehen?
Das weiss ich nicht. Wir diskutieren nicht, wie ein russischer Sieg aussieht, nur unseren.
Und wie würde ein Sieg der Ukraine aussehen?
Die volle Kontrolle über unser Staatsgebiet, das ist alles, was wir wollen. Ich denke, dass das eine sehr legitime Sache ist.
Inklusive der Krim?
Ja, natürlich! Erstens ist das unser Territorium - niemand kann einfach kommen und sich unsere Gebiete einfach so aneignen. Zweitens weiss ich, dass es eine Menge Diskussionen über die Krim gibt. Immer wieder höre ich das Argument, dass dort viele Russen leben, die für den Anschluss an Russland gestimmt hätten. Allerdings wurde dieses sogenannte Referendum mit vorgehaltener Waffe durchgeführt, es konnte gar nicht den Willen des Volkes ausdrücken. Zudem ist die Krim – und das ist wichtig zu verstehen – die Heimat der Krimtataren. Die Krimtataren haben per Definition keinen anderen Ort, den sie ihr Zuhause nennen können. Seit der russischen Annexion sind sie starker Diskriminierung und Belästigung durch die Russen ausgesetzt. Eine Freundin von mir ist Krimtatarin. Sie erzählte mir erst vor Kurzem, dass sich die Krimtataren auf der Krim versammelt und beschlossen hätten, ihre eigenen Häuser niederzubrennen, falls Russland versuchen wird, sie wie unter Stalin zu deportieren.
"Ich wünschte, es gäbe eine diplomatische Lösung für diesen Krieg"
Wie könnte ein Ende dieses Krieges aussehen?
Nun, ich wünschte, es gäbe eine diplomatische Lösung für diesen Krieg, einen Vertrag, damit dieser ganze Wahnsinn sofort aufhört. Aber ich sehe nicht, dass es eine solche diplomatische Lösung geben könnte.
Warum?
Das hat mehrere Gründe. Zunächst einmal muss man seinem Verhandlungspartner vertrauen können. Es gibt wohl keine einzige Person auf der Welt, auch nicht in Russland, die wirklich glaubt, was
"Wie verhandelt man mit jemandem, der eindeutig gegen grundlegende Prinzipien verstösst"
In Deutschland fordern mehrere Dutzend Intellektuelle in einem offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz einen Lieferstopp von schweren Waffen an die Ukraine. Sie drängen zugleich auf eine diplomatische Lösung und "zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können".
Ich wünschte, diese Intellektuellen würden ein wenig mehr über die Menschenrechtsverletzungen im von Russland besetzten Donbass Bescheid wissen. In Donezk gibt es eine Kunsthalle, die "Isoljazija" genannt wird, Isolation. Die Russen haben diesen Raum in eine Folterkammer verwandelt. Dort wurden Menschen ohne Gerichtsbeschluss festgehalten und gefoltert. Ich frage diese Intellektuellen: Wie verhandelt man mit jemandem, der eindeutig gegen grundlegende Prinzipien verstösst, auf denen sowohl die deutsche als auch die ukrainische Gesellschaft aufgebaut sind? Natürlich sind wir keine perfekte Demokratie und ich kann viel kritisieren. Aber Fakt ist, dass es keine Folterkammern in der Ukraine gibt – im Gegensatz zu den von Russland besetzten Gebieten. In Deutschland gibt es nach wie vor grosse Schuldgefühle für den Zweiten Weltkrieg. Aus irgendeinem Grund fühlen sich diese deutschen Intellektuellen aber ausschliesslich schuldig für Russland. Die Nazis haben allerdings deutlich mehr Ukrainer und Belarussen als Russen getötet, ein Grossteil des Krieges gegen die Sowjetunion fand auf ukrainischem und belarussischem Gebiet statt und nicht auf russischem! Dass nach wie vor vor allem das russische Leid thematisiert wird, hat vor allem mit sowjetischer Propaganda zu tun. Diese hat die Sowjetunion mit Russland gleichgesetzt, das wirkt bis heute fort. Ich war erst vor knapp zwei Wochen in Berlin. Im Bundestag habe ich mich mit mehreren Abgeordneten getroffen, wir sind zusammen durch das Gebäude gelaufen. Dort gibt es eine Wand, in die Rotarmisten ihre Namen geritzt haben. Wir sind dort stehen geblieben und ich habe den deutschen Parlamentariern gesagt: Schaut euch diese Namen an! Fast alle Soldaten hatten ukrainische Nachnamen. Es waren also auch Ukrainer, die Deutschland befreit haben.
"Ich verstehe die Angst der Deutschen"
Können Sie nach Ihrem Besuch in Deutschland, zumindest teilweise, die Befürchtungen vor einer Ausweitung des Krieges und die damit zusammenhängende zögerliche Haltung der Bundesregierung besser nachvollziehen?
Ich verstehe, dass es beängstigend ist, zu akzeptieren, dass der Krieg passiert und dass er so grausam ist. Ich verstehe die Angst der Deutschen, dass sie sich nicht einmischen wollen. Ich selbst wollte mich auch nicht einmischen, ich wollte diesen Krieg genauso wenig. Die Ukraine hat diesen Krieg nicht begonnen. Aber wenn sich niemand einmischt, dann wird sich Russland weiter nach Westen bewegen. Irgendwann muss sich dann Deutschland zwangsläufig einmischen – allerdings erst nach viel mehr Toten und grösseren Schäden. Deutschland sollte also jetzt der Ukraine helfen. Manchmal muss mehr in der Geschichte getan werden als nur das, was wirtschaftlich richtig oder machbar ist.
Sie trafen im Bundestag Politiker aller Parteien. Wie liefen die Gespräche?
Die Deutschen, die ich getroffen habe, waren sehr praktisch orientiert. Das mag ich. Deutsche Politiker sagen vergleichsweise offen und ehrlich, was sie anbieten und dann auch liefern können. Zugleich gibt es aber viele Missverständnisse, die zum Teil auch auf russischer Propaganda basieren.
Haben Sie ein Beispiel?
Ich war zu Gast im Auswärtigen Ausschuss und wurde dort unter anderem gefragt, ob die russischsprachige Bevölkerung im Donbass unterdrückt werde. Meine Antwort war: Die Leute versuchen zu Tausenden in von der Ukraine kontrollierte Gebiete zu fliehen – und nicht nach Russland! Die Mehrheit der Soldaten in den Einheiten, die derzeit Charkiw gegen die Russen verteidigen, spricht Russisch. Ich komme aus Charkiw, sagt mir nicht, dass Charkiw zu Russland gehören will…
Mitten im Gespräch ertönt plötzlich eine laute Sirene, die Luftalarm-App von Sowsun hat ausgelöst. Routiniert legt sie das Handy beiseite und setzt das Interview fort.
Was wurden Sie noch gefragt?
Ein Abgeordneter der Sozialdemokraten fragte mich, wie gross der Spielraum für Verhandlungen mit den Russen sei. Kein einziger Abgeordneter, den ich traf, lehnte die Unterstützung für die Ukraine ab. Aber einige der Politiker stellten Fragen zu einem möglichen Ende des Krieges, bei denen ich spürte, wie sie hofften, eine zufriedenstellende Antworte für ihre Wählerschaft zu bekommen. Diese ständige Gleichsetzung des Aggressors Russland mit der Ukraine ärgert mich auch bei dem Flaggenverbot in Berlin…
"Dieser Unwille Partei zu ergreifen ist wirklich schlecht"
... Anlässlich des Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkrieges hatte die Berliner Polizei am Sonntag und am Montag für mehrere Gedenkorte das Zeigen von russischen und ukrainischen Fahnen verboten.
Ja, man versuchte, damit irgendwie ausgleichend zu wirken. Doch gerade dieser Unwille Partei zu ergreifen ist wirklich schlecht. Es gibt historische Momente, in denen man sich einfach engagieren muss! Die Tatsache, dass Deutschlands Regierung nicht bereit ist, das zu tun, ist seltsam. Ich verstehe zwar, dass Deutschland in hohem Masse von russischem Gas abhängig ist. Aber ich verstehe nicht, wie man die Situation in so einem historischen Moment einfach ignorieren kann.
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Reagiert Ihnen die deutsche Regierung zu langsam?
Ja, sie hat zu langsam reagiert. Ein Teil des Problems in Deutschland besteht darin, dass es keine Tradition gibt, rauszugehen und grosse Reden über den historischen Moment zu halten. So wie das etwa der britische Premier Boris Johnson tut. Ich habe extra nachgeschaut: Deutschland hat zur etwa gleichen Zeit angefangen, der Ukraine zu helfen und der Umfang ist auch nicht viel weniger als der Grossbritanniens. Aber Deutschland macht das ohne grosse Reden – um ja nicht zu viel Aufmerksamkeit in Russland zu erregen? Ich verstehe das nicht.
"Wir haben die Warnungen aus der ganzen Welt ignoriert"
Ihre Partei, Holos, ist eigentlich in der Opposition. Wie kann ich mir die ukrainische Politik in Zeiten des Krieges vorstellen. Ist die Werchowna Rada zu einem Ein-Parteien-Parlament geworden?
Wir haben nach wie vor Parlamentssitzungen, die sind aber sehr kurz, nur noch ein Tag statt einer Woche. Die Sitzungen werden nicht im Voraus angekündigt, aus Sicherheitsgründen. Politik wird immer noch gemacht, es gibt immer noch politische Grabenkämpfe. Aber im Moment ist es egal, ob wir in der Opposition zur Partei des Präsidenten sind, oder nicht. Denn was wir im Moment brauchen, ist die Lieferung von Waffen an die ukrainische Armee. Die Aufgaben, die wir zu bewältigen haben, sind so offensichtlich, dass sogar eine pro-russische Fraktion zusammen mit allen anderen Parteien abstimmt. Oppositionsarbeit werden wir machen, sobald wir den Krieg gewonnen haben.
Wie hat sich ihr Bild von Präsident
Ich respektiere ihn wieder. Ich habe meine Streitpunkte mit ihm genauso wie mit einigen Leuten aus seiner Regierung…
Was ist Ihr grösstes Problem mit Wolodymyr Selenskyj?
Wie sage ich das jetzt am besten… Mein grösstes Problem ist, dass das Land besser auf diesen Krieg hätte vorbereitet werden können. Wir hatten zu viel Angst und haben die Warnungen aus der ganzen Welt ignoriert. Dennoch gibt es eine Sache, für die ich ihn respektiere: Dass er nie gegangen und die ganze Zeit hier geblieben ist. Und es gibt noch etwas, für das ich ihn schätze: Er hat sehr gute Generäle zur Führung der Armee ernannt, obwohl er Gegenwind dafür bekam. Typischerweise werden die Streitkräfte von Generälen geführt, die seit Jahren nicht mehr bei einem Kampf dabei waren. Wenn man aber in den vergangenen acht Jahre im Krieg gekämpft hat wie der aktuelle Generalstabschef, dann macht das einen Unterschied. Hätten wir diese Generäle alten Stils, wären wir jetzt in einer ganz anderen Lage.
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