Die Ukraine gerät gegenüber Russland zunehmend in die Defensive. Verteidigungspolitiker in Deutschland mahnen: Die militärische Unterstützung dürfe jetzt nicht nachlassen. Doch die Zahl der Zusagen sinkt bereits – und die Lieferung von Munition und Kampfjets benötigt Zeit.

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Die Ukraine geht in ihren zweiten Kriegswinter nach Beginn der russischen Invasion – und die Aussichten für die Bevölkerung sind noch beängstigender als vor einem Jahr. Auf die versprochene Frühjahrsoffensive seiner Armee hat das Land monatelang vergeblich gewartet. Grosse Geländegewinne sind zuletzt nicht gelungen, bei der Stadt Awdijiwka haben die Ukrainer Mühe sich gegen die russischen Streitkräfte zu behaupten. Armeechef Walerij Saluschnyj warnte Anfang November vor einem zermürbenden Stellungskrieg.

Und hinzu kommt: Die Waffenhilfe aus dem Westen stockt und bröckelt.

Die neu zugesagte militärische Unterstützung für die Ukraine ist zwischen August und Oktober dieses Jahres auf einen Tiefstand gesunken. Sie bezifferte sich dem Kieler Institut für Weltwirtschaft zufolge auf 2,1 Milliarden Euro: der niedrigste Betrag seit Beginn der Invasion Anfang 2022.

Europa könnte Ausfall der USA nicht kompensieren

Nicht zu verkraften wäre für die Ukraine ein Ausfall der USA. Dort sperrt sich der Trump-Flügel der Republikaner im Kongress schon länger gegen weitere Mittel für die Ukraine. Ende dieses Jahres laufen die aktuellen Hilfen aus. Zwar hat die US-Regierung der Ukraine gerade eine enge Zusammenarbeit in der Rüstungsproduktion in Aussicht gestellt. Doch auf eine Fortsetzung der Waffenlieferungen hat sich die US-Politik noch nicht geeinigt.

Er betrachte die Entwicklung mit Sorge, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Hellmich. "Selbst wenn alle Europäer ihre Kräfte zusammenführen, werden wir die USA nicht ersetzen können. Dazu reichen die militärischen Fähigkeiten und die Produktionskapazitäten in Europa nicht aus", so der verteidigungspolitische Sprecher seiner Fraktion im Gespräch mit unserer Redaktion.

In diesem Punkt ist er sich mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) einig: Der Westen helfe der Ukraine gemeinsam, aus vielen länderspezifischen Hilfen werde ein Ganzes, sagt die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag. "Da ist es schwierig, gestrichene Leistungen zu kompensieren. Jedes Land sollte daher im Rahmen seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten weiterhin das tun, was es bisher geleistet hat", sagte sie unserer Redaktion.

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Das Dauerthema: Marschflugkörper Taurus

Und wie geht es konkret in Deutschland weiter? Ein Teil der Politik drängt auf die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern – seit Monaten das strittigste Thema bezüglich der Ukraine-Unterstützung. Damit wären ukrainische Streitkräfte in der Lage, russische Stellungen auch weit hinter der Frontlinie zu treffen und Nachschubwege zu stören.

Genau aus diesem Grund will das Kanzleramt Taurus derzeit nicht liefern. Man befürchtet, dass die Marschflugkörper irgendwann auf russischem Territorium landen könnten, auch wenn das bei vergleichbaren Waffen aus Grossbritannien, Frankreich und den USA bisher nicht passiert ist.

Unternimmt die Bundesregierung derzeit alles, was sie kann? Florian Hahn, verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, bezweifelt das. "Der Kanzler weigert sich bis heute, der Ukraine hochwirksame Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Obwohl wir alles tun müssten, um die ukrainische Bevölkerung in dieser kritischen Phase zu unterstützen", sagt Hahn unserer Redaktion.

"Umfassende Anträge unserer Fraktion liegen dazu vor, auch um politisch der Ukraine eine Perspektive zu bieten. Diese werden jedoch von der Ampelregierung immer wieder von der Tagesordnung verbannt. Kurzum: Wir könnten eindeutig mehr tun", so Hahn.

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius gibt sich beim Thema Taurus allerdings öffentlich schmallippig. Dazu gebe es keinen neuen Sachstand, sagte er vergangene Woche im Bundestag. In Berlin betont man immer wieder: Auf ein einzelnes Waffensystem komme es nicht an, sondern auf das Gesamtpaket.

Pistorius erwartet stabilen Wehretat

Böse Zungen behaupten inzwischen, der Westen halte sich mit neuen Zusagen bewusst zurück, um die Ukraine irgendwann zu Verhandlungen mit Russland zu zwingen. Das weisen die meisten westlichen Politiker öffentlich brüsk zurück. "Einen grösseren Unfug habe ich selten gehört", sagte Pistorius in dieser Woche in einem Interview mit der "Zeit" (Bezahlinhalt).

Der Minister verspricht finanzielle Verlässlichkeit: Die deutschen Hilfen sollen wohl auf dem geplanten Stand bleiben – obwohl die Bundesregierung 2024 eine zweistellige Milliardensumme im Haushalt einsparen muss. Er erwarte keinerlei Änderungen an seinem Etat, sagte Pistorius vergangene Woche im Bundestag.

In Deutschland pocht zwar die AfD darauf, sich ein Beispiel an den US-Republikanern zu nehmen: "Auch Bundeskanzler Olaf Scholz muss die Milliardenausgaben für den Ukraine-Krieg stoppen", teilte der AfD-Vorsitzende mit. Dem aktuellen ZDF-Politbarometer zufolge sind allerdings nur 26 Prozent der Deutschen der Meinung, der Westen solle die Ukraine militärisch weniger unterstützen.

"Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass Putin darauf abzielt, dass die Unterstützung in Europa nachlassen könnte."

Marie-Agnes Strack-Zimmermann

Munitionsproduktion braucht Zeit

Ein Jahr und neun Monate nach der Februarinvasion ist der ukrainische Verteidigungskrieg gegen Russland ein Abnutzungskrieg geworden. Die Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung wird als zunehmend ermüdet bis verzweifelt beschrieben. Und auch wenn in Deutschland immer noch eine Mehrheit der Bevölkerung hinter den Militärhilfen steht: Hierzulande ist der Schrecken dieses Krieges in Europa für viele Menschen dem Alltag gewichen.

Auch Verteidigungspolitiker merken, dass sie mit den immer gleichen Losungen dagegen argumentieren müssen. FDP-Politikerin Strack-Zimmermann sagt trotzdem: Deutschland müsse konsequent dranbleiben. "Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass Putin darauf abzielt, dass die Unterstützung in Europa und möglicherweise auch nach den Präsidentschaftswahlen in den USA nachlassen könnte. Er spielt auf Zeit."

Robin Wagener, Vorsitzender der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe, findet ebenfalls, Europa müsse mehr Verantwortung übernehmen. "Wir befinden uns in einer wachsenden Auseinandersetzung mit autokratischen Regimen. Das gefährdet unsere europäische und globale Friedensordnung. Ein geschwächtes Europa wäre kein guter Partner im globalem Systemwettbewerb", sagt der Grünen-Bundestagsabgeordnete unserer Redaktion.

Die Frage ist nun, was in der nächsten Zeit noch passiert. Der Ukraine mangelt es derzeit an vielem. Zum Beispiel an Munition. Die Nato-Staaten haben im Frühjahr die Lieferung von einer Million Artilleriegeschossen des Standardkalibers 155 Millimeter zugesagt. Angekommen ist davon bisher nur ein Drittel.

SPD-Politiker Hellmich wirbt um Verständnis: Deutschland müsse jetzt die Munitionsproduktion hochfahren. "Das geht nicht so einfach, wie es vielleicht klingt. Eine neue Produktionsstrasse aufzubauen, ist eine industrielle Herausforderung."

Kampfjet-Lieferung frühestens im Frühjahr

Auch ein Grossprojekt des Westens, an dem Deutschland allerdings nicht beteiligt ist, braucht Zeit: Elf Staaten (unter anderem Dänemark und die Niederlande) haben zugesagt, der Ukraine 12 bis 18 Kampfjets zur Verfügung zu stellen. Im November hat in Rumänien die Ausbildung ukrainischer Soldaten an den Flugzeugen begonnen. Doch ebenfalls im November hat in den Niederlanden der Rechtspopulist Geert Wilders die Wahl gewonnen, der die militärische Unterstützung der Ukraine beenden will.

Die amtierende niederländische Verteidigungsministerin Kajsa Ollongren sagt im Interview mit unserer Redaktion, sie gehe davon aus, dass die Zusagen trotzdem Bestand haben: "Wir werden die Lieferung als amtierende Regierung weiter vorantreiben, und ich erwarte, dass das Parlament dazu steht."

Wie auch immer: Wirklich zum Einsatz werden die Kampfjets wohl frühestens im kommenden Frühjahr kommen. Einen Winter voller Ungewissheiten muss die Ukraine bis dahin noch überstehen.

Verwendete Quellen

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