Die einen sehen in ihm einen Terroristen, die anderen ein Opfer von Behördenwillkür. Der Fall Sami A. beschäftigt nicht nur Gerichte und Ministerien, sondern auch viele Gemüter.
Schliesslich gilt der ehemalige Leibgardist von Osama bin Laden als Gefährder. Seit Monaten bemühten sich Behörden darum, den Tunesier so schnell wie möglich abzuschieben. Womöglich waren sie aber zu schnell. Denn nach Auffassung eines Gerichts durfte Sami A. gar nicht abgeschoben werden. Was nun? Fragen und Antworten zu einem brisanten Thema.
Wer ist Sami A.?
Der 1976 geborene Tunesier kam 1997 zum Studium nach Deutschland. Erst studierte er Textiltechnik, später Technische Informatik, schliesslich Elektrotechnik. In Bochum meldete er sich 2005 an. Dort lebte er auch zuletzt mit seiner Familie. Seine Ehefrau und seine vier Kinder sind deutsche und zugleich tunesische Staatsangehörige.
Was wird ihm vorgeworfen?
Sami A. soll Ende 1999/Anfang 2000 in einem Al-Kaida-Lager in Afghanistan eine militärische Ausbildung erhalten und zeitweise zur Leibgarde von Osama bin Laden gehört haben, dem Anführer der Terrororganisation al-Kaida.
Auch danach soll er Kontakt zu salafistischen Kreisen gehalten haben. Sami. A. bestreitet das. Die Bundesanwaltschaft leitete im März 2006 ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein - wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Das Verfahren wurde aber 2007 eingestellt.
In Deutschland ist Sami A. strafrechtlich nur unerheblich aufgefallen, stellte das Oberverwaltungsgericht Münster fest. Das hat nach Einschätzung des Gerichts aber kein relevantes Gewicht, da "eine unauffällige Lebensführung typischerweise zum Erscheinungsbild eines „Schläfers“ gehört".
Was genau lief bei seiner Abschiebung schief?
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hatte am 20. Juni angeordnet, die Abschiebung sofort zu vollziehen. Zuständig für die Abschiebung ist dann die örtliche Ausländerbehörde, in diesem Fall in Bochum. Während die Vorbereitung lief, wurden am Verwaltungsgericht Gelsenkirchen drei Klagen von Sami A. verhandelt. Das Gericht wies die Behörden nach eigenen Angaben ausdrücklich darauf hin, dass Sami A. nicht abzuschieben sei, solange kein Urteil gefällt ist. Als das Urteil dann am Freitagmorgen an die Beteiligten versendet wird, ist Sami A. schon nicht mehr in Deutschland.
Welche Rolle spielte Bundesinnenminister Horst Seehofer?
"Mein Ziel ist es, die Abschiebung zu erreichen, auch in diesem Fall": Diesen Satz, auf Sami A. bezogen, sagte Bundesinnenminister
Was sagt das Flüchtlingsministerium in Nordrhein-Westfalen?
Das Ministerium verteidigt sich damit, dass das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen die sogenannte "Abschiebungsandrohung" noch am 11. Juli für rechtmässig erklärt habe. In einer solchen Androhung wird den Betroffenen mitgeteilt, dass sie innerhalb einer kurzen Frist das Land verlassen müssen. Daraufhin sei die Abschiebung eingeleitet worden. "Ein anderslautender Beschluss lag dem Ministerium zu diesem Zeitpunkt nicht vor", heisst es.
Wie begründet das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen seine Entscheidung?
Für das Gericht ist nicht entscheidend, ob Sami A. früher einen Top-Terroristen schützte oder ob er heute als Gefährder eingestuft wird. Wichtig war allein, dass ihm nach Auffassung des Gerichts in Tunesien eine beachtliche Gefahr droht, etwa Folter. Und das schliesst nach deutscher Rechtslage eine Abschiebung aus. Dass die Behörden Sami A. dennoch abgeschoben haben, ist deshalb aus Sicht des Gerichts "grob rechtswidrig". Es verletze "grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien".
Werden die tunesischen Behörden den Abgeschobenen zurückschicken?
Die tunesischen Behörden berufen sich auf die Souveränität der Justiz in dem nordafrikanischen Land. Es lägen Informationen vor, die geklärt werden müssten, sagte ein Sprecher. Es werde ermittelt, ob A. an "terroristischen Aktivitäten" beteiligt gewesen sei.
Droht Sami A. tatsächlich Folter?
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch kritisieren immer wieder Fälle von Folter durch die tunesische Polizei und Sicherheitskräfte. Zwar gebe es keine systematische Folter mehr, wie noch unter Zeiten des Diktators Ben Ali, aber gerade unter Verweis auf die nationale Sicherheit käme es vereinzelt zu brutalen Verhörmethoden.
Wie stehen die Tunesier zur Abschiebung von Gefährdern aus Deutschland?
Vor allem im vergangenen Jahr gab es mehrere Demonstrationen in Tunesien, nachdem sich Deutschland und Tunesien nach dem Anschlag auf Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin auf schnellere Abschiebungen geeinigt hatten. Viele Tunesier wollen islamistische Gefährder oder Straftäter nicht im Land haben. Sie fürchten, dass diese eine Gefahr für ihre Sicherheit darstellen könnte. Die Gefängnisse sind bereits vielerorts überfüllt. Zudem gebe es keine Präventionsstrategie, bemängeln Kritiker. Aus Tunesien haben sich nach Schätzungen bis zu 6000 Menschen der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien und im Irak angeschlossen. Über ihre Rückkehr wird gestritten. Immer wieder kommt es auch in Tunesien zu Anschlägen und Angriffen auf Sicherheitskräfte, zuletzt vergangene Woche.
Ist das Tauziehen um Sami A. ein Einzelfall?
Nein. Im Jahr 2017 wurde ein Flüchtling nach Afghanistan abgeschoben, obwohl sein Fall noch vor Gericht verhandelt wurde. Auf Anordnung des Verwaltungsgerichts Sigmaringen musste er im Dezember 2017 zurückgeholt werden. Der junge Mann hatte als Soldat mit den US-Streitkräften in Afghanistan zusammengearbeitet und wurde deshalb von den Taliban bedroht. Er darf nun als anerkannter Flüchtling in Deutschland bleiben.
Wie geht es jetzt weiter?
Nach tunesischem Recht wäre es den Behörden möglich, Sami A. maximal 15 Tage festzuhalten, ohne ihn einem Richter vorzuführen. Seine deutsche Anwältin geht davon aus, dass ihm anschliessend, wenn er wieder auf freiem Fuss ist, ein Visum zur Rückkehr nach Deutschland ausgestellt werden müsse. Das NRW-Flüchtlingsministerium will jedoch beim Oberverwaltungsgericht in Münster Beschwerde einlegen, zusammen mit der Ausländerbehörde in Bochum. © dpa
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