Eine Schnellstrasse soll den Touristenort Locarno endlich mit der Nord-Süd-Autobahn verbinden. Es geht um 13 Kilometer, und jeder einzelne davon verschlingt drei Jahre Planungszeit. Das ist der Preis der direkten Demokratie.

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Locarno, im sonnenreichen Süden der Alpen gelegen, ist einer der bekanntesten Touristenorte der Schweiz. Jedes Jahr verzeichnet die Region mehr als eine Million Logiernächte.

Während die Anreise mit der Bahn problemlos klappt, ist auf der Strasse oft Engelsgeduld gefragt. Denn Autofahrer müssen die heute 20 Kilometer lange Strecke von der Nord-Süd-Autobahn bis nach Locarno oft im Stop-and-Go-Rhythmus absolvieren.

"Das Locarnese ist die letzte Grossagglomeration der Schweiz, die nicht an das Nationalstrassennetz angebunden ist", sagt Claudio Zali, Präsident der Tessiner Kantonsregierung und dort zuständig für das Bau- und Umweltdepartement. Die teils vierspurige Strasse verengt sich unterwegs zum zweispurigen Flaschenhals.

Beispielhaft für die Schweiz

Die Sache ist so kompliziert, weil auf engstem Raum sehr unterschiedliche Interessen kollidieren: Landwirtschaft, Naturschutz, Erholung, privater und Güterverkehr, Tourismus, lokale und regionale Wirtschaft – wie fast überall in der Schweiz.

Darum ist die Geschichte dieser Autobahn auch eine Geschichte über die Schweiz, wo immer möglichst alle Ansprüche unter einen Hut gebracht werden. Das ist schliesslich die Idee der direkten Demokratie, die viele Vorteile hat – aber auch einen Nachteil. Sie ist langsam, manchmal so langsam, dass Frustration aufkommen kann.

Seit Jahrzehnten fordern die Gemeinden der Region um Locarno den Bau eines schnellen Anschlusses nach Bellinzona, dem "Tor" zur Nord-Süd-Autobahn.

Bereits in den 1990er-Jahren war ein aussichtsreiches Projekt ausgearbeitet worden. Doch 2007 versenkten es die Stimmbürger des Kantons Tessin in einer Volksabstimmung.

Zurück auf Feld 1

Was war passiert? Die Linienführung mitten durch die Magadino-Ebene, die zwischen Bellinzona und Locarno liegt, war auf harte Kritik gestossen – nicht nur bei militanten Naturschützern.

Die Gegner hatten das Referendum ergriffen, und sie hatten an der Urne Erfolg. Die Behörden und Planer machten lange Gesichter, denn für sie hiess das "zurück auf Feld eins": Mit seinem Nein hatte das Volk an einem kurzen Abstimmungswochenende einen jahrelangen Planungsprozess abgeschossen.

Die Verantwortlichen zogen ihre Lehren daraus, denn ein zweites solches Desaster wollten sie nicht noch einmal erleben. Beim Neustart zur Planung der Verbindungsstrasse legten sie deshalb besonderen Wert auf partizipative Prozesse. Wenn die Bürger von Anfang mitreden könnten, dann würde die Opposition gegen die neue Streckenführung geringer, so der Gedanke.

Mitsprache hat ihren Preis

Nur: Mitsprache hat ihren Preis. Und dieser Preis ist Zeit, bezahlt in Geduld. Hier die wichtigen Etappen der zweiten Planung:

  • Zwischen 2009 und 2010 führten die Planer eine neue Machbarkeitsstudie durch.
  • 2012 schickte der Kanton drei Varianten der Linienführung an das Bundesamt für Strassen nach Bern zur Evaluation.
  • 2015 entschied sich die Bundesbehörde für eine Variante, die weitgehend im Tunnel durch eine Bergflanke verläuft.
  • 2016 bis 2018: Der Kanton arbeitet diese Tunnelvariante zum neuen Generalprojekt aus.
  • So sind seit der Abstimmung 2007 über zehn Jahre vergangen. Die Schnellstrasse ist immer noch Papier.

Wieder ein Schritt, nicht der letzte

Im Sommer nun wurde die Bevölkerung im Rahmen einer Mitwirkung zum Projekt angehört. An mehreren Informationsabenden wurde klar: Das Dorf Quartino, am Südausgang des geplanten Tunnels gelegen, war begeistert. In Sant'Antonino auf der Nordseite gab es dagegen eine Reihe von Bedenken. Unter anderem, weil der vorgesehene Halbanschluss auch Landwirtschaftsfläche frisst. Der Tunnel, der verbinden sollte, wurde zu einem, der trennte.

"Wir haben diese Bedenken sehr ernst genommen, das Projekt überarbeitet und angepasst, wo es möglich war", sagt der Ingenieur und Projektkoordinator Matthias Neuenschwander.

Die Bemühungen zeigten Wirkung: Die Gemeinde Sant'Antonio reagierte positiv auf die Anpassung. Bis Ende Jahr wird das überarbeitete Projekt zurück ans Bundesamt für Strassen nach Bern geschickt – wieder ein Schritt, immerhin.

Langer Atem nötig

Doch damit ist ein Ende des Planungsprozesses noch lange nicht in Sicht. Es gibt noch zwei hohe Hürden zu nehmen: der ganze Genehmigungsprozess als erstes und – fast wichtiger – die Finanzierung.

Der Kanton ist nämlich nicht in der Lage, die Kosten von 1,45 Milliarden Franken zu stemmen. Es wird der Bund sein, der zahlen muss. Denn 2020 wird er die Verantwortung für das Projekt übernehmen. Und auch das kostet wieder Zeit. Denn zuerst wird die Schweizer Regierung festlegen, welche Priorität sie dieser Verbindung einräumt. Im besten Fall entscheidet der Bundesrat 2021. Dann erhalten die Tessiner Behörden und Verbände ein Einspruchsrecht sowie Rekurs-Möglichkeiten.

Angesichts der Tunnel-Lösung haben sich die Natur- und Umweltschutzverbände bisher positiv zum Projekt geäussert. Es könnte also schnell gehen.

Aber was heisst schon schnell? Für die eigentliche Realisierung der Tunnels sind acht bis zehn Jahre geplant. Das erste Auto wird nicht vor 2035 auf der Schnellstrasse fahren. Wahrscheinlicher ist laut Experten 2038.

Fassen wir noch einmal zusammen: Fast ein halbes Jahrhundert für 13-Kilometer Schnellstrasse. Das macht drei Jahre pro Kilometer.

Immerhin: Eine kantonale Abstimmung wird es dann nicht mehr geben, ist doch die Schnellstrasse Sache des Bundes. Das Szenario von 2007 mit einen krachenden Volks-Nein kann sich somit nicht wiederholen. Verkehrsplaner Matthias Neuenschwander wird angesichts solcher Zeiträume philosophisch: "Kathedralen hat man ja auch nicht in ein paar Jahren gebaut."

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.

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