Bislang waren die meisten Historiker der Meinung, dass das Deutsche Kaiserreich die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trifft. Zwei namhafte Wissenschaftler stellen diese These 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges infrage.
Es war ein regelrechter Skandal. Deutschland trage nicht die alleinige, wohl aber die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg, schrieb Fritz Fischer Ende der 1950er Jahre. Denn die Reichsleitung habe den Krieg durch den Überfall auf Belgien am 4. August 1914 bewusst angesteuert. Zu dieser Auffassung kam zumindest der Hamburger Historiker Fischer – und löste damit den ersten Historikerstreit der noch jungen Bundesrepublik aus.
Obwohl von manchen Kritikern sogar der Geschichtsfälschung bezichtigt, hat sich Fischers ursprüngliche These in abgeschwächter Form mit der Zeit unter deutschen Historikern durchgesetzt. Demnach hätten Kaiser Wilhelm II. und sein Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg im Juli 1914 einen Krieg in Kauf genommen, um zu verhindern, dass das enorme Wachstum Russlands die Vormachtstellung des Deutschen Reichs gefährde.
Undurchschaubares Machtgeflecht
Der australische Historiker Christopher Clark stellt mit seinem Buch "Die Schlafwandler", das 2013 auf Deutsch erschien, diese in der Forschung vorherrschende Haltung als zu einseitig infrage. Indem er die Mechanismen nachzeichnet, die seiner Ansicht nach den Krieg erst möglich gemacht haben, ergibt sich praktisch eine neue Deutung der Vorkriegsgeschichte.
Dabei bewertet der 54-Jährige die sogenannte Juli-Krise im Licht einer schier unüberschaubaren Anzahl von Originaldokumenten aus Europa, Russland und dem Balkan. Doch auch, wenn es, wie er sagt, "in diesem Meer von Quellen tückische Strömungen" gibt, nur ein multipolarer Blick könne die Spielzüge der einzelnen Akteure verständlich machen. "Wenn man nur den vermeintlich schuldigen Nationalstaat unter die Lupe nimmt – und das hat eben Fritz Fischer gemacht – führt das zu einer Verengung des Blickfelds", sagte Clark in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Für ihn eine unzulässige Vereinfachung. "Ein Weltkrieg kann nicht zustande kommen, nur weil ein Staat sozusagen andere Staaten provoziert."
Clark zufolge sei der Krieg vermeidbar gewesen. Allerdings hätten die involvierten Regierungen die Risiken ihrer jeweiligen Strategien nicht ausreichend überdacht oder erkannt. "Die Tatsache, dass man es mit fünf beziehungsweise sechs Grossmächten zu tun hatte, mit mehreren kleineren Akteuren auf dem Balkan, mit dem türkischen, mit dem osmanischen Reich, also, allein die Interaktionen zwischen diesen Exekutiven ergibt eine ungeheure Komplexität", sagt Clark. Hinzu komme, dass in Berlin, Wien oder St. Petersburg nicht klar gewesen sei, wer eigentlich das Sagen hatte. "Das hat zu einer wahnsinnigen Undurchschaubarkeit geführt", glaubt Clark.
Liest man Clarks Buch, bekommt man jedoch den Eindruck, dass vor allem Frankreich und Russland Kriegstreiber waren. Clark erläutert: "Der französische Präsident verspricht den Russen wiederholt, falls es auf dem Balkan zu einem Streit zwischen Österreich und Serbien kommt, dann sind die Franzosen bereit, in ihm einen Casus Belli zu sehen. Wir verstehen das auch als: 'Wenn die Russen eingreifen wollen, dann stehen wir ihnen zur Seite'". Die Krise, so formuliert es Clark, sei also schon eingearbeitet worden in das geostrategische Denken der französisch-russischen Allianz.
Grossmannssucht und Ängstlichkeit
Auch der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hält die Meinung, Deutschland habe systematisch auf einen Krieg hingearbeitet, nicht mehr für haltbar. "Wenn wir den Ersten Weltkrieg nicht verstehen, wird uns das ganze 20. Jahrhundert ein Rätsel bleiben", heisst es in seinem neuen Buch "Der grosse Krieg". Auf über 900 Seiten stellt Münkler darin das Versagen der politischen Eliten dar und spricht von einer "Fatalismus-Falle", in die Europas Machthaber 1914 geraten.
Weil sie überzeugt sind, dass es ohnehin irgendwann zu Kriegshandlungen kommt, machen sie mobil. "Die Deutschen haben einen russischen Spion in der Botschaft in London und erfahren darüber, dass es Gespräche zwischen den Briten und den Russen über eine Marinekonvention gibt. Bethmann-Hollweg lässt sagen, das berührt vitale Interessen des Deutschen Reiches und der englische Aussenminister Grey sagt, wir führen diese Gespräche gar nicht. Bethmann-Hollweg weiss von diesem Zeitpunkt an, wir werden belogen. Und es erschüttert sein Vertrauen in die Briten, aber auch sein Vertrauen in seine eigene Politik", erzählt Münkler in einem Fernsehinterview mit dem RBB. Reichskanzler Bethmann-Hollweg, der sonst für seine moderate Haltung bekannt ist, lässt sich schliesslich von Generalstabschef Helmuth von Moltke zu einem Präventivkrieg hinreissen.
Damals scheiterten Politik und Militär an einer "Mischung aus Grossmannssucht und Ängstlichkeit", lautet Münklers Fazit. Es sei "das Pech der Deutschen" gewesen, dass sie sich in diesen Krieg verwickeln hätten lassen, und "dass sie bei der Entstehung dieses Kriegs auch noch so eine verheerende Rolle gespielt haben".
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