Die Empörung über das Potsdamer Treffen von Rechtsextremen mit Politikern der AfD und der CDU hat in der Bevölkerung etwas ins Rollen gebracht. Die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus reissen nicht ab und die grosse Beteiligung übertrifft alle Erwartungen.

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1958 blickte der Schriftsteller Erich Kästner auf die Nazizeit zurück. Der Verfasser von "Emil und die Detektive" kam zu dem Schluss: "Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist." Das dürfte auch die Überzeugung sein, mit der zurzeit jeden Abend Tausende gegen rechts auf die Strasse gehen.

Essen, Rostock, Leipzig, Bremen - die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus reissen nicht ab und gehen auch am Wochenende vielerorts weiter. Die Beteiligung übertrifft durchweg die Erwartungen. In Köln etwa waren am Dienstagabend ursprünglich 1000 Demonstranten angemeldet - es kamen trotz schneidender Kälte geschätzte 30.000. Einer von ihnen war Hans Weiching, ein Mann mit weissem Schnäuzer und Fellkappe. Ob er schon häufiger demonstriert habe, wurde er von einem Fernsehteam gefragt. "Nee, zum ersten Mal." Warum gerade jetzt? Antwort: "Ist doch klar. Wir sind hier in der Nazizeit angelandet."

Prominente aus Kultur und Sport zeigen Flagge

Eine Demonstration gegen rechts und die AfD in Hamburg ist wegen des grossen Menschenandrangs abgebrochen worden. "Wir müssen die Kundgebung vorzeitig beenden", sagte Kazim Abaci vom Verein Unternehmer ohne Grenzen, der die Demonstration unter dem Motto "Hamburg steht auf - Gemeinsam gegen Rechtsextremismus und neonazistische Netzwerke" mitorganisiert hatte. Er machte am Freitag Sicherheitsbedenken geltend. Es seien bereits Menschen in der Menge kollabiert, die Feuerwehr komme nicht mehr durch. Nachdem Abaci zunächst von 130.000 Teilnehmern am Jungfernstieg gesprochen hatte, korrigierten die Veranstalter die Zahl später auf 80.000. Die Polizei nannte 50.000 Demonstranten.

Nicht nur Prominente wie Panikrocker Udo Lindenberg, BAP-Sänger Wolfgang Niedecken und Schauspieler Matthias Brandt rufen zur Teilnahme auf, auch viele Bundesliga-Clubs zeigen klar Flagge. "Nie wieder ist jetzt! Kommt alle rum", schreibt der FSV Mainz 05. Es sei fünf vor zwölf, warnt Christian Streich, Trainer des SC Freiburg, und von seinem Leipziger Kollegen Marco Rose kommt die Mahnung: "Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass man gegen Dummheit und Rechtsextremismus in jeder Form aufsteht."

Verfassungsschützer stufen Teile der AfD schon länger als rechtsextrem ein. Dennoch blieb es lange still. "Ich denke, dass sich die Leute in den letzten Jahren fast daran gewöhnt hatten, dass die AfD Teil des politischen Spektrums geworden ist", sagt Katja Hoyer, Historikerin am King's College in London und Autorin des viel diskutierten Buches "Diesseits der Mauer - Eine neue Geschichte der DDR".

Der Umschwung kam durch die Enthüllungen des Recherchezentrums Correctiv über ein Treffen von Rechtsextremisten am 25. November, an dem AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der sehr konservativen Werteunion teilgenommen hatten.

Die Terminologie des Treffens hat eine Schockwirkung

"Wenn man jetzt eben die Details dieses Treffens nachliest, dann hat das eine Schockwirkung", sagt Hoyer der Deutschen Presse-Agentur. "Da denkt man unwillkürlich an den eigenen Freund, Kollegen, Nachbarn, der nach diesen Plänen auf irgendwelchen Deportationslisten landen würde."

Der frühere Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, hatte bei dem Treffen nach eigenen Angaben über "Remigration" gesprochen. Wenn Rechtsextremisten den Begriff verwenden, meinen sie in der Regel, dass eine grosse Zahl von Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen soll - auch unter Zwang. Konkret soll die Vertreibung von Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte nach Afrika besprochen worden sein. Das erinnert auf beklemmende Weise an den Plan der Nazis, die europäischen Juden nach Madagaskar zu verschleppen. "Das setzt in der deutschen Seele Urängste frei", sagt Hoyer. "Das rüttelt auf. Und so erkläre ich mir den grossen Zulauf zu den Demonstrationen."

Im Moment gingen diejenigen auf die Strasse, die schon lange auf einen passenden Anlass gewartet hätten, um ein Zeichen gegen die AfD zu setzen, meint der Soziologe Armin Nassehi. "Das sind tatsächlich diejenigen, die man als die schweigende Mehrheit bezeichnen kann." Der zahlenmässig dominierende Teil der Bevölkerung - der sich aber für gewöhnlich nicht äussert, weil er im Grunde zufrieden ist. "Die empirische Sozialforschung sagt uns, dass die Menschen viel zufriedener mit ihren persönlichen Situationen sind, als es die veröffentlichte Meinung wiedergibt."

Die "schweigende Mehrheit" steht auf

Denn für die meisten Menschen gilt normalerweise, dass sie sich weder in sozialen Netzwerken zu Wort melden noch zu Demonstrationen gehen. Dadurch entsteht der Eindruck, die Gesellschaft wäre stark polarisiert, denn in der Öffentlichkeit führen in erster Linie diejenigen mit sehr stark ausgeprägten Meinungen das Wort. Die Gemässigten - und das ist die Mehrheit - schweigen. "Aber jetzt ist so ein Moment, in dem die schweigende Mehrheit erkennt, dass es tatsächlich um etwas geht", sagt Nassehi. "Und da lässt sie ausnahmsweise von sich hören."

Die Anhängerschaft der AfD wird das vermutlich nicht schmälern, worauf auch neueste Umfragen hindeuten. Nassehi geht davon aus, dass die Demonstrationen bei den AfD-Sympathisanten einen Solidarisierungseffekt bewirken können in der Art von: "Da sieht man mal wieder, dass diese komischen links-grünen Eliten etwas gegen uns haben." Aber das sei insofern ein Irrtum, als hier eben keineswegs nur überzeugte Linke demonstrierten. "Man kann das auch positiv wenden und sagen: Wir sehen, dass es unabhängig von allen aktuellen Ereignissen eine grosse Stabilität von Wählern gibt, die für die AfD und überhaupt für sozialen Radikalismus unerreichbar sind."

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Für Hoyer bergen die Demonstrationen aber auch die Gefahr, dass sie die demokratischen Parteien in dem Glauben bestärken, keine inhaltlichen Antworten auf die AfD geben zu müssen. Nach dem Motto: "Das sind sowieso alles widerliche Leute - die sollte man einfach nicht wählen!" Sie findet es wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, dass der Aufschwung der AfD in den Umfragen ein relativ neues Phänomen ist. Dementsprechend könnten die Anhänger kaum alle demokratieunfähige Extremisten sein. "Auffällig ist doch, dass die Unterstützung für die AfD sogar in der Corona-Krise trotz aller Verwerfungen abgebröckelt ist und jetzt aber eben viele sagen: "Was da in der Mitte angeboten wird, funktioniert für mich nicht mehr."

Historiker und Soziologen fordern Auseinandersetzung mit den Ansichten der AfD-Wähler

Hoyer führt dies auf eine Kombination krisenhafter Belastungen durch Inflation, Ukraine-Krieg und Entscheidungen der Ampel wie dem Heizungsgesetz zurück. Deshalb sei es wichtig, AfD-Wähler nicht aufzugeben und sich auch mit unliebsamen Meinungen auseinanderzusetzen. "Das heisst nicht, dass man der AfD nach dem Mund redet - das funktioniert ja auch nicht, wie man bei den Äusserungen von (CDU-Chef) Friedrich Merz über abgelehnte Asylbewerber und Zahnersatz gesehen hat. Aber man kann diese Themen auch nicht einfach ignorieren."

Nassehi rät dazu, grenzüberschreitende Formulierungen von AfD-Politikern nicht zu übernehmen, sondern diese inhaltlich zu stellen. "Fast 40 Prozent aller Grundschüler haben statistisch einen Migrationshintergrund. Wir sind ein erfolgreiches Einwanderungsland. Es gibt da immer dieses Zerrbild von Migration. Da wiederholt sich, dass man nur Extrembilder sieht, aber nicht die Mehrheit derer, die eher repräsentativ sind und zur selbstverständlichen Realität des Landes gehören. Das muss stärker herausgestellt werden."

Im Übrigen sei er Optimist, sagt Nassehi, und von dieser Warte aus habe das Gesamtgeschehen durchaus auch eine positive Seite: "Nach diesem schrecklichen Treffen mit seinen fürchterlichen Sätzen kann jetzt eben niemand mehr ausweichen und sagen, na ja, die AfD ist eben eine etwas konservativere Alternative - das ist sie nicht, sie ist rechtsradikal. Im Prinzip konnte man das auch vorher schon wissen. Aber jetzt kann man wirklich nicht mehr daran vorbei."(dpa/jst)

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