Als Folge einer steigenden Zahl von Rückweisungen an der Schweizer Grenze campieren Hunderte von Flüchtlingen im benachbarten italienischen Como. Nichtregierungsorganisationen üben Kritik. Das Schweizer Grenzwachtkorps verteidigt die Praxis der Rückweisungen mit Verweis auf das Rückübernahmeabkommen mit Italien. Der Kanton Tessin baut nun ein eigenes Übergangsheim.

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Die Situation an der Schweizer Südgrenze in Chiasso bleibt äusserst angespannt. Das zeigen allein schon die nackten Zahlen des Grenzwachtkorps (GWK).

3.560 Migranten wurden im Juli abgewiesen, die meisten stammen aus Eritrea, gefolgt von Menschen aus Gambia, Afghanistan, Nigeria und Somalia. Justizministerin Simonetta Sommaruga bezeichnete die Situation in Como am Donnerstag vor den Medien als "schwer erträglich".

Da viele Flüchtlinge keinen Asylantrag in der Schweiz stellen, keine gültigen Reisepapiere haben oder bereits in Italien registriert wurden, werden sie im Rahmen eines Rücknahmeabkommens direkt nach Italien überstellt. Dies betrifft mittlerweile rund zwei Drittel der ankommenden Migranten.

Die Situation hat dazu geführt, dass etliche Flüchtlinge in Como stranden, um erneut einen Versuch für eine Durchreise durch die Schweiz nach Deutschland, England oder ein skandinavisches Land zu wagen. Diese Situation war noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen.

"Wir sind von einem Asylland zu einem Transitland für viele Migranten geworden", sagt der Tessiner Justizdirektor Norman Gobbi. Doch die Schweiz könne und dürfe nicht ein solches Transitland sein, meint der Lega-Politiker.

Der Bundesrat müsse auch ein klares Signal dieser Art setzen, zumal Deutschland an der Grenze aufgegriffene Flüchtlinge direkt wieder in die Schweiz zurück schicke. Auch Sommaruga sagte vor den Medien: "Wir wollen kein Transitland werden."

Prekäre Zustände in Como

Im Bahnhof San Giovanni von Como und in der dortigen Parkanlage campieren mittlerweile rund 500 bis 600 Migranten, darunter sehr viele Eritreer sowie Minderjährige. Hilfs- und Freiwilligenorganisationen sind vor Ort. Doch die Verhältnisse sind prekär.

Die italienische Regierung hat die Präfektur in Como angewiesen, nach Lösungen für die Migranten zu suchen. Bisher ohne Erfolg. Es war überlegt worden, die Migranten in eine Kaserne zu überführen oder im Park einer Schule ein ordentliches Zeltlager einzurichten. Beide Optionen erwiesen sich offenbar als undurchführbar.

Regelmässig vor Ort ist die Tessiner SP-Kantonsrätin Lisa Bosia von der Flüchtlingsorganisation Firdaus. Diese spendenfinanzierte Organisation verteilt Decken und über Mittag in Como einfache Mahlzeiten – Reisgerichte und einen Apfel. Am Abend können die Flüchtlinge in einer Mensa essen, die von der örtlichen Caritas organisiert wird.

Bosia ist überzeugt, dass an der Grenze zu Italien auch Personen, insbesondere Minderjährige zurückgewiesen werden, die eigentlich Anrecht auf einen Aufenthalt in der Schweiz hätten. "Ich arbeite gerade an einem Dossier mit einer detaillierten Dokumentation, die ich dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) zukommen lasse", sagt Bosia auf Anfrage.

Kinderschutzkonvention respektieren

Das UNHCR zeigt sich bereits besorgt über die Situation in Chiasso/Como. Und Amnesty International (AI) kritisierte die vielen Rückweisungen nach Italien: "Wir sind besorgt über Berichte von Minderjährigen, die nach eigenen Angaben an der Schweizer Grenze wieder nach Italien zurückgeschickt wurden und an der Weiterreise zu ihren Familienangehörigen in der Schweiz gehindert wurden", sagte AI der Nachrichtenagentur Reuters.

Angesichts der prekären Lebensbedingungen für Flüchtlinge in Como sei es inakzeptabel, besonders verletzliche Menschen abzuweisen. "Die Schweiz hat die Verpflichtung, in jedem Fall die UNO-Konvention zum Schutz des Kindes zu respektieren." Die Schweiz hat die Konvention 1997 ratifiziert.

Für das Grenzwachtkorps ist laut Sprecher David Marquis klar, dass minderjährige Migranten einen besonderen Schutz bedürfen. "Deshalb sind minderjährige Migranten bis zur Übergabe an eine andere Behörde jederzeit begleitet und betreut sowie unter Aufsicht des Grenzwachtkorps", hält er fest.

Klar zurückgewiesen werden auch Vorwürfe, wonach das GWK Personen nach Italien zurück schicke, die in der Schweiz einen Asylantrag stellen wollten: "Alle Personen, die Asyl beantragen, werden dem Empfangs- und Verfahrenszentrum des Staatssekretariats für Migration übergeben." Auch die Gewerkschaft der Grenzwächter weist die entsprechenden Vorwürfe zurück.

Zwischenunterkunft vor Rückweisung

Der Kanton Tessin hat derweil entschieden, dass in Grenznähe ein Empfangs- und Rückweisungszentrum nötig ist, in dem Migranten, die nach Italien zurückgewiesen werden, zumindest eine Nacht verbringen können. Bisher werden drei Zivilschutzanlagen im Mendrisiotto provisorisch genutzt.

Eine Halle im Industriegebiet von Mendrisio-Rancate soll nun umgebaut und schon Ende August in Betrieb genommen werden. Dort soll es Platz für 150 Schutzbedürftige geben. Der Bund beteiligt sich an der Finanzierung.

Das Grenzwachtkorps begrüsst die Einrichtung einer solchen Zwischenunterkunft: "Die Reduktion auf einen einzigen Standort bringt für das Grenzwachtkorps logistische Vorteile."

Prekäre Situation in Mailand
Wie schon 2014, als Mailand zum Hotspot syrischer Flüchtlinge wurde, die nach Nordeuropa weiter reisen wollten, hat sich die Situation in der lombardischen Hauptstadt auch in diesen Tagen zugespitzt.
Mailand registriert einen Zustrom von Flüchtlingen aus Süden, einen Rückfluss von Ventimiglia, wo Migranten von der Einreise nach Frankreich abgehalten werden, sowie von Norden, wo Rückweisungen an der Grenze zur Schweiz erfolgen.
Rund 3.300 Flüchtlinge sollen sich inzwischen in Mailand aufhalten. Der sozialdemokratische Bürgermeister Giuseppe Sala hat angekündigt, für diese Menschen Zelte aufstellen zu lassen, da die bestehenden Flüchtlingseinrichtungen bereits überfüllt seien.
Problematisch ist, dass die von der Lega Nord regierte Region Lombardei nicht Hand zur Problemlösung bietet. Präsident Roberto Maroni schrieb auf seinem Facebook-Profil zur Situation in Como: "Das sind keine Flüchtlinge, sondern einfach Illegale. Sie müssen nach Hause geschickt werden!"

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