Das Ausländergesetz schreibt vor, dass ausländische Staatsangehörige zur Einreise in die Schweiz über "ausreichende finanzielle Mittel" zur Bestreitung des Lebensunterhalts verfügen müssen – etwa 100 Franken pro Tag. Ein Kriterium, das sich als schwierig erweisen kann.
Am vergangenen 6. September wurde Douraid in Genf auf der Strasse von der Polizei angehalten. Der etwa 30 Jahre alte Tunesier war obdachlos, hatte keine Ausweispapiere und keine Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz.
In dem am 9. September von Staatsanwältin Alexandra Clivaz-Butler erlassenen Strafbefehl wird Douraid auch vorgeworfen, dass er nicht über "ausreichende finanzielle Mittel für die Dauer des Aufenthalts und die Rückreise" verfüge. Nach zwei Tagen in Polizeigewahrsam wurde der junge Mann zu einer Geldstrafe von 43 Tagessätzen verurteilt.
Die Genfer Staatsanwaltschaft befasst sich jeden Monat mit Dutzenden solcher Fälle. Manchmal werden Ausländer, die sich illegal in der Schweiz aufhalten, mit Drogen oder wegen Gewalttaten festgenommen. Doch in den meisten Fällen reicht allein ihre Anwesenheit in der Schweiz – ohne Bewilligung, aber auch ohne nennenswertes Einkommen – aus, um sie zu einer Busse oder einer Haftstrafe zu verurteilen.
Es kommt in diesen Fällen in der Regel nicht zu einem Prozess: Es gibt nur eine Anhörung vor dem Staatsanwalt, der die Strafe festlegt. Nur wenige der Betroffenen werden von einem Anwalt begleitet. Ihre finanzielle Lage wird immer in einigen wenigen Worten erwähnt.
Artikel 5, Buchstabe b des Ausländergesetzes (AuG) von 2005 schreibt in der Tat vor, dass Ausländerinnen und Ausländer, die in die Schweiz einreisen wollen, die für den Aufenthalt notwendigen finanziellen Mittel besitzen müssen, ohne allerdings weitere Einzelheiten festzulegen.
In Antwort auf eine Anfrage von swissinfo.ch präzisiert das Staatssekretariat für Migration (SEM), dass eine Person, die einreisen will, "nachweisen muss, pro Aufenthaltstag etwa 100 Franken zu haben". Für Studierende liegt der Betrag bei 30 Franken pro Tag.
Eine gängige Praxis
Wie überprüfen die Behörden dies? "Die Feststellung ausreichender finanzieller Mittel kann durch Bargeld, Reisechecks, Kreditkarten oder andere Sicherheiten, z.B. eine Bankgarantie, erfolgen", schreibt das SEM. Wird eine Person am Zoll gestoppt und kann den Nachweis dieser finanziellen Mittel nicht erbringen, wird die Einreise verweigert. Wird eine Person festgenommen, wenn sie sich bereits in der Schweiz befindet, wird sie verurteilt und unter Umständen abgeschoben.
Für Leute mit Wohnsitz in einem Staat des Schengenraums gilt diese Vorgabe nicht. Für Personen, die aus anderen Ländern kommen, ist der Artikel aber von Bedeutung: Er soll sicherstellen, dass die betroffenen Personen, auch solche, die für einen Aufenthalt von maximal drei Monaten einreisen, nicht versuchen werden, in der Schweiz zu bleiben. Das ist der Grund, weshalb die Massnahme auch im Fall von befristeten Visa sehr strikt angewendet wird.
Melissa Llorens von der Westschweizer Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (Observatoire romand du droit d'asile et des étrangers, ODAE) erinnert sich an den Fall einer Kolumbianerin, die das Baby ihrer Tochter besuchen wollte, die in der Schweiz lebt. "Die Dame lebte in ihrem Land sehr gut, aber ihre Einkünfte lagen unter den 9000 Franken, die sie hätte belegen müssen, um ein Visum für 90 Tage zu erhalten", erklärt Llorens.
"Ihr Antrag wurde daher abgelehnt. Dieser Artikel erlaubt den Behörden, ihren Entscheid nicht gross begründen zu müssen. Und die Schweiz ist ein so teures Land: Wer auf der Welt hat pro Tag 100 Franken zur Verfügung?"
"Übertriebene Strenge"
Die Schweiz ist bei Weitem nicht das einzige Land, das die Genehmigung eines Aufenthalts von Ausländerinnen und Ausländern an ein finanzielles Kriterium knüpft. So verlangt Kanada zum Beispiel, dass vorübergehend im Land Ansässige über genügend Mittel verfügen, um ihren Aufenthalt zu finanzieren.
Was andere Länder Europas angeht, fasst ein Dokument des Staatssekretariats für Migration die Vorgaben zusammen. So braucht es zum Beispiel für Griechenland 50 Euro pro Tag, und 65 Euro pro Tag für Frankreich, wenn die Person in Hotels übernachtet, und 35 Euro pro Tag, wenn sie bei Freunden oder Bekannten unterkommt.
In einem ihrer Jahresberichte kritisierte die Westschweizer Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, dass die "Behörden in dieser Frage der für den Lebensunterhalt erforderlichen Mittel ein weites Ermessen" hätten. "Die Praxis ist von einer Strenge geprägt, die in vielen Fällen übertrieben scheint", hielt die Vereinigung weiter fest.
So reiche zum Beispiel der Unterschied von Lebensstandard oder Lohnniveau zwischen dem Herkunftsland des Visumsantragstellers und der Schweiz aus, den Verdacht zu erwecken, dass die Person betrügen wolle. "Da unser Land zu den reichsten der Welt gehört, gilt dieses Argument potenziell für fast jede Situation. So ist es für gewisse Personen, wie etwa einen jungen, nicht reichen Afrikaner, fast unmöglich, ein Visum zu erhalten. An der Hochzeit eines Familienmitglieds teilzunehmen, oder Verwandte zu besuchen, ist für viele Menschen, die nicht in Europa leben, utopisch."
Für Raymond de Morawitz, einen auf Ausländerrecht spezialisierten Genfer Anwalt, ist die finanzielle Situation in der Regel keine ausreichende Voraussetzung für die Genehmigung des Aufenthalts eines Ausländers in der Schweiz. "Ein Tunesier, auch ein recht wohlhabender, könnte wahrscheinlich nicht in die Schweiz kommen, ausser er ist sehr reich und könnte sich dank einer Pauschalsteuer in der Schweiz niederlassen." © swissinfo.ch
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