Mehr als zwei Jahre nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014 ringt die Schweiz immer noch mit der Frage, wie die vom Stimmvolk beschlossenen Quoten mit dem freien Personenverkehr unter einen Hut zu bringen sein könnten. Während die Verhandlungen mit der Europäischen Union an einem toten Punkt angelangt sind, hier ein Blick zurück auf ein Jahrhundert der Einwanderung in ein Land, in dem ein guter Ausländer zuallererst ein nützlicher Ausländer ist.

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Einwanderer haben in grossem Mass bei der Gestaltung der modernen Schweiz mitgeholfen. Bereits 1914 machen sie 15% der Bevölkerung aus. Sie kommen vor allem aus Frankreich, Deutschland und Italien. Einige sind Bankiers oder Industrielle, doch der Grossteil von ihnen arbeitet auf den Feldern, in Fabriken oder beim Aufbau des Eisenbahn-Netzes.

Während des I. Weltkriegs nehmen die Spannungen zwischen den Unterstützern Deutschlands und Frankreichs dramatisch zu. Mit der folgenden Wirtschaftskrise kommt erstmals Angst vor "Überfremdung" auf: Die Ausländer werden jetzt als eine Bedrohung für den nationalen Zusammenhalt betrachtet. In diesem Klima erarbeitet der Bundesrat (Landesregierung) 1931 das erste Ausländergesetz.

"Es ist tatsächlich vom Geist geprägt, dass die Schweiz kein Einwanderungsland ist und dass sich Ausländer nur vorübergehend im Land aufhalten dürfen. Von da her kommt das berühmte Saisonnier-Statut", sagt Etienne Piguet, Professor für Humangeographie an der Universität Neuenburg und Autor des Buches "Einwanderungsland Schweiz. Fünf Jahrzehnte halb geöffnete Grenzen".

Nach dem Ende des II. Weltkriegs braucht die Schweiz Arbeitskräfte. Sie öffnet das Ventil für die Einwanderung, und als die Wirtschaft langsamer wächst und deren Bedürfnisse abnehmen, schliesst sie dieses wieder ein wenig. Dies ist der Fall 1963, als der Bundesrat erstmals eine Maximalquote für Saisonarbeiter pro Kanton einführt.

Der lange Weg Richtung Integration

"Gastarbeiter", "Fremdarbeiter": Die Terminologie ist eindeutig. Der Ausländer – besonders Italiener zu jener Zeit – ist willkommen, hier zu arbeiten, aber nicht für mehr. In Rom findet man damit aber kein Gehör. 1964 wird dem anhaltenden Druck Italiens nachgegeben: Die Schweiz führt die Möglichkeit ein, nach fünf Jahren die saisonale Arbeitsbewilligung in eine Jahresbewilligung umzuwandeln. Zudem kann die ausländische Arbeitskraft ihre Familie in die Schweiz holen.

Im gleichen Jahr wird in Zürich die erste Volksinitiative "gegen Überfremdung" lanciert, die zurückgezogen wird, bevor sie an die Urne kommt. Eine zweite kommt 1970 zur Abstimmung. Sie wird von Nationalrat James Schwarzenbach von der Nationalen Aktion vorgebracht und will die Quote der Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz auf zehn Prozent beschränken. Die Initiative wird mit 54% Nein-Stimmen abgelehnt, die folgenden (1974 und 1977) etwas deutlicher.

In der Zwischenzeit hat die Regierung eine Eidgenössische Ausländerkommission ins Leben gerufen, die sich für Integration und beschleunigte Einbürgerungen einsetzt. "Man begann anzuerkennen, dass diese Menschen Teil unserer Gesellschaft sind, dass sie nicht gehen werden und dass eine zweite Generation am Entstehen ist. Das war die Geburtsstunde der Integrationspolitik", sagt Sandro Cattacin, Soziologe an der Universität Genf, der sich intensiv mit Migrationsfragen beschäftigt.

Nach der fremdenfeindlichen Welle der 1970er-Jahre schlägt die Linke mit dem Vorschlag zurück, das Saisonnier-Statut abzuschaffen. Dieses sei unmenschlich. Doch die "Mitenand-Initiative für eine neue Ausländerpolitik" erleidet 1981 mit 84% Nein-Stimmen an der Urne regelrecht Schiffbruch.

Es sollte noch bis 2002 und zur Umsetzung des Abkommens über den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) dauern, bis das Saisonnier-Statut seinen letzten Atemzug machte. 1985, 1993 und 1995 lehnte das Stimmvolk Initiativen ab, welche die Einwanderung einschränken wollten.

"Halb-Öffnung"

"Man kann sagen, dass in jener Zeit keine wirklich restriktive Initiative angenommen wurde", fasst Piguet zusammen. "Doch andererseits wurde auch keine echte Pro-Einwanderungs-Initiative angenommen. Man wollte die Einwanderung, man hat Leute angeworben, weitgehend aus wirtschaftlichen Gründen, aber gleichzeitig wollte man immer bremsen. Deshalb spreche ich von einer 'Halb-Öffnung'."

Auch wenn die städtische Schweiz für Cattacin zur Hauptsache gut mit der Einwanderung leben kann, so kultiviert ein Teil der Bevölkerung immer noch einen Abwehr-Reflex. Dieser habe sich aber im Lauf der Jahrzehnte verändert.

"Die fremdenfeindliche Diskussion der 60er- und 70er-Jahre drehte sich nicht wie heute um Kulturen, sondern um die Erhaltung der Schönheit des Landes. Schwarzenbach war ein Romantiker, ein wertkonservativer Grüner, der sich stark an der Natur orientierte. Zu seiner Zeit erlebte die Schweiz eine zunehmende Überbauung, ein wenig so, wie es gegenwärtig in den osteuropäischen Ländern geschieht. Und wenn dies zu schnell geht, schafft man bei den Leuten Orientierungsprobleme, was konservative Reflexe weckt."

Eine Premiere

Wie also lässt sich die Abstimmung vom 9. Februar 2014 erklären? An jenem Tag nahm das Stimmvolk hauchdünn die Initiative der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) "Gegen Masseneinwanderung" an. Diese sieht Höchstzahlen und Kontingente für erwerbstätige Ausländerinnen und Ausländer vor, zum Leidwesen der Personenfreizügigkeit.

"Ein interessanter Fall", analysiert Cattacin. "Die Mehrheit der vorherigen Initiativen, die offen fremdenfeindlich waren, wurde mehr oder weniger mit dem gleichen Resultat, 60 zu 40, abgelehnt. Es gibt aber 20 Prozent der Stimmenden, die bereit sind, Richtung Fremdenfeindlichkeit zu kippen, falls dies weder ihr Wohlergehen noch ihren Wohlstand in Mitleidenschaft zieht. Man sah das beim Minarett-Verbot, und wir werden das wieder beim Verbot der Burka sehen."

Bei der Masseneinwanderungs-Initiative sei das aber anders gewesen, so der Soziologe. "Diese hat weitreichende wirtschaftliche Konsequenzen, und trotzdem schaffte sie es, einen Teil dieser 20 Prozent zu überzeugen. Dies ist auf eine Verwirrung in den Köpfen dieser Leute zurückzuführen, die nicht genau wussten, über was wir eigentlich abstimmten. So haben beispielsweise die Tessiner Grünen die Initiative unterstützt, weil sie sich von einem grünen antieuropäischen Reflex leiten liessen. Und das reicht, um in Richtung eines Ja zu kippen und zu diesen Problemen zu führen, aus denen wir jetzt nicht wissen, wie herauskommen."


(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)  © swissinfo.ch

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