Wie kann die direkte Demokratie der Schweiz noch demokratischer werden? Indem man einfache Bürgerinnen und Bürger, die durch das Los gezogen werden, in einen Beratungsprozess einbezieht. Ein Forschungsprojekt will diese Praxis aus Oregon in der Schweiz erproben.
Das Projekt trägt den Titel "Eine nicht-populistische Theorie der direkten Demokratie". Es wird von Nenad Stojanovic geleitet und durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützt. Der Politologe, ein überzeugter Befürworter der direkten Demokratie, erklärt, er wolle sich nicht auf ein theoretisches Projekt beschränken.
Modell aus Oregon
Mit seiner Forschungsgruppe will der Professor auch konkret "eine Innovation im Zusammenhang mit der direkten Demokratie" erforschen, "die ein nicht-populistisches Potenzial hat".
Es geht dabei um das Modell aus dem US-Bundesstaat Oregon von 2010, die "Citizens’ Initiative Review" (CIR), buchstäblich: "Bewertung einer Initiative durch die Bürger". Dabei werden die Bürgerinnen und Bürger in den Prozess der Meinungsbildung zu Themen einbezogen, über die das Volk abstimmen soll. Es ist ein Modell, das besonders gut zum Schweizer System der direkten Demokratie passt, weil dieses jenem von Oregon ähnlich ist.
Dem Bürger traut man mehr
Am Ende dieses Informations- und Diskussionsverfahrens erstellt die CIR eine Erklärung, in der die wichtigsten Fakten, die Hauptgründe für eine Zustimmung und für eine Ablehnung des betreffenden Themas aufgeführt sind. Diese Erklärung wird in das Abstimmungsbüchlein aufgenommen, das zusammen mit dem Stimmmaterial an das gesamte Stimmvolk in Oregon verschickt wird.
Aus Studien in Oregon ging hervor, dass immer mehr Menschen "den Informationen dieser Gruppen mehr Vertrauen schenken als jenen der Behörden", sagt Alice el-Wakil. Die Doktorandin in politischer Theorie an der Universität Zürich und dem Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) verfolgt die Entwicklung der CIR im US-Bundesstaat und fordert die Schweiz nachdrücklich auf, sich davon inspirieren zu lassen, um die Qualität ihres eigenen Systems zu verbessern.
Mehr Gleichheit und mehr Information
Zwar glaubt die Politikwissenschaftlerin, die direkte Demokratie der Schweiz biete gute partizipative Instrumente, doch weist sie auch auf kritische Punkte hin. "Die Einbeziehung – eines der Grundprinzipien der Demokratie – ist in der Schweiz nur bedingt vorhanden. Die Stimmabstinenz bei Abstimmungen ist hoch."
Ein weiterer schmerzhafter Punkt sei die Information: "Für die Bürgerinnen und Bürger ist es oft schwierig, sich eine Meinung zu den komplexen Fragen zu bilden, über die sie abstimmen sollen. Oft gibt es auch Probleme mit Desinformation, mit Fake-news, die in Kampagnen vor Volksabstimmungen herumgereicht werden", so el-Wakil.
Angesichts dieser Schwächen liegt es nach Ansicht der Forscherin im Interesse der Schweiz, demokratische Innovationen wie die CIR in Oregon zu erforschen, die es ermöglichten, die Bürgerinnen und Bürger in die Diskussionen und Überlegungen einzubeziehen.
"Dank der Auslosung wird das Prinzip der Gleichheit stärker und bezieht Menschen mit ein, die in der Regel nicht gleichberechtigt sind." Gleichzeitig ermöglichten diese Diskussionsforen, der Öffentlichkeit und den Behörden neue Informationen zukommen zu lassen.
Für die Politologin hat dieses Projekt "den doppelten Vorteil, einen Beratungsraum zu testen und die in der Schweiz bereits bestehenden demokratischen Verfahren zu verbessern. Ich freue mich, dieses Experiment zu verfolgen: Es wird sicher spannend werden".
Genfer Vorreiterin gesucht
Das Experiment soll nächstes Jahr beginnen und in zwei Gemeinden vor zwei Abstimmungen durchgeführt werden. Zurzeit befindet es sich noch in der Planungsphase, aber in ersten Kontakten hat Nenad Stojanovic ermutigende Signale aus dem Kanton Genf erhalten.
Da er ab dem Herbstsemester für vier Jahre Professor an der Universität Genf sein wird, hält es der Forscher für "selbstverständlich, dort mit den Testläufen zu beginnen".
Nun sucht Stojanovic eine erste Gemeinde im Kanton, die als Pionierin mitmachen möchte. Wie in Oregon sollen die Bürgerinnen und Bürger – rund 20 – aus dem Verzeichnis der Stimmberechtigten per Los gezogen werden und eine Arbeitsgruppe bilden.
Nach dem Vorbild des amerikanischen Bundesstaats sollen der Gruppe auch Experten und ein Mediator angehören. Die Arbeit soll fünf Tage dauern. Danach soll die Gruppe ihren Standpunkt darlegen.
Anders aber als in Oregon kann die Empfehlung der "Genfer CIR" nicht im offiziellen Abstimmungsbüchlein publiziert werden. "Damit dies geschehen könnte, müsste das Bundesgesetz über die politischen Rechte angepasst werden, das in Sachen Stimmempfehlungen sehr detailliert ist", sagt Stojanovic. Die CIR-Überlegungen werden deshalb separat verschickt.
Wirkung messen
"Nach der Abstimmung werden wir eine repräsentative Umfrage in der Gemeinde durchführen, um die Wirkung zu messen. Wir sind nicht nur daran interessiert, diese per Los zusammengewürfelte Gruppe zu haben, die Beschlüsse fasst, sondern auch daran, welche Auswirkungen dies hat. Es ist wichtig, dass das Ergebnis der Diskussion nicht versandet", sagt Stojanovic.
Die Erfahrungen in Oregon geben Grund zur Hoffnung, weil die Empfehlungen der CIR von den Stimmenden zunehmend berücksichtigt werden. Dies liegt nicht allein daran, dass die Position der CIR ein Ergebnis fundierter Überlegungen ist. Auch ist die Gruppe der durch das Los gezogenen Bürgerinnen und Bürger für die breite Öffentlichkeit deutlich repräsentativer als Institutionen, Parteien und Organisationen, die Interessen vertreten.
Für das Volk, gegen Populismus
Stojanovic hofft, dass dieses Modell im ganzen Land auf Interesse stösst und der direkten Demokratie in der Schweiz neues Leben einhaucht. "Würde dieses Modell eines Tages in der Schweiz auf allen Ebenen eingeführt, würden jährlich etwa tausend Bürgerinnen und Bürger per Los ausgewählt, die sich eine Woche lang um die Öffentlichkeit kümmern, lernen, wie die Institutionen arbeiten und die Komplexität des Themas zu verstehen versuchen. Es würde allen Bürgerinnen und Bürgern das Stimmen erleichtern und sie motivieren."
Aus Studien über dieses Modell ging bereits hervor, dass unter jenen, die an einem solchen Prozess teilgenommen haben, populistische Vorschläge im Lauf der Diskussionen deutlich an Boden verlieren. Solche würden am Ende der fünf Arbeitstage von der Mehrheit abgelehnt, sagt Stojanovic. Er hofft, in der Schweiz zeigen zu können, dass dieses System die Volkssouveränität stärkt und gleichzeitig dem Populismus die Türe weist.
Derweil werden Nenad Stojanovic und Alice el-Wakil bereits heute Abend Überzeugungsarbeit leisten: Sie stellen ihre Thesen zu diesem Thema an einer öffentlichen Konferenz an der Universität Luzern vor.
© swissinfo.ch
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.