Die Europolitik kocht gerade hoch, als die Auslandschweizer an ihrem jährlichen Kongress das Verhältnis der Schweiz zur EU ins Zentrum stellen.

Mehr aktuelle News

Das war ein Timing. Der Schweizer Chefunterhändler mit der EU besucht die Auslandschweizer – bekannt für ihre Weltoffenheit, grösstenteils wohnhaft in Europa – um zu schildern, wie er in Brüssel für die Schweizer Interessen kämpft. Und rundum im Land, in das alle im Publikum von weither angereist kamen, herrscht verstimmte Konsternation.

Im Innern nicht einig

Man hat in der Schweiz gerade festgestellt, dass ein erneuter Anlauf zum Guten mit Brüssel wohl dem Scheitern anheimgefallen ist. Nicht wegen Brüssel, sondern weil man sich im Innern nicht einigen kann. Ist dieser Heimat nach einiger Weltoffenheit - der Schale - nun auch noch ihr Kern abhandengekommen? Ihre Fähigkeit zum Konsens?

"Knall in der Europapolitik" und "Eklat" schreibt die Presse an diesem Samstag. Die Aufregung ist gross in der Schweiz, denn hoch war das Tempo, mit dem in den letzten Tagen die Vorwürfe durchs Land geschleudert worden sind zwischen Links und Rechts: Demontage. Blockade. Verrat. So lauteten sie.

Noch ehe der Sommer richtig vorbei ist, läuft also die Politik wieder – und zwar heiss, weit über der üblichen Betriebstemperatur. Was ist passiert?

Streit um Schutz der Schweizer Löhne

Gewerkschaften und Sozialdemokraten streiten sich mit den zwei freisinnigen Bundesräten, inwieweit die Schweiz der EU entgegenkommen soll beim Schnüren eines neuen Vetragpakets, institutionelles Rahmenabkommen genannt. Es geht darin auch um den Schutz der hohen Schweizer Löhne. Diese sind zugleich Knackpunkt wie wohl auch letzte Hürde in einer mehrstufigen Verhandlung mit der EU, bei der beide am Tisch vieles miteinander verknüpft haben.

Unverrückbare Forderung der EU

Einig war man sich in der Schweiz bisher von rechts bis links, dass Firmen aus der EU ihre Arbeit in der Schweiz nicht dank tieferen Löhnen billiger anbieten sollen als Schweizer Firmen. Die Schwierigkeit daran: Ausgerechnet hier fordert die EU unverrückbar eine Bewegung der Schweiz. Tut sich hier nichts, bewegt sich gar nichts. So lautet der Tarif aus Brüssel.

Aus Sicht der Bürgerlichen wäre der Schweiz eine minime Bewegung durchaus möglich. Sie könnte etwa die Kontrollen der ausländischen Firmen technisch etwas speditiver abwickeln, flexibler gestalten. So könnte sie dem grossen Handelspartner, der sie umgibt, zumindest eine Art Rest-Elastizität demonstrieren. Man könnte Brüssel zeigen, das auch Tippelschritte möglich sind im Land, das bei jedem sonstigen, grösseren Schritt über Volksinitiativen und Referenden zu stolpern droht.

"Es sind kreative Lösungen gefragt"

Das war wohl die Idee des Aussenministers, des freisinnigen Bundesrats Ignazio Cassis, als er kürzlich sagte: "Es sind kreative Lösungen gefragt." Aus Sicht der Gewerkschaften führt im Umfeld des Lohnschutzes aber auch jeder noch so kleine Tippelschritt über eine rote Linie. Die Gewerkschaften weigerten sich nun, über die sogenannten flankierenden Massnahmen auch nur in den Dialog zu treten. Das war der Knall nach den Sommerferien.

Balzaretti locker und charmant

Der Rauch dieser Auseinandersetzung liegt noch in der Luft, als Chefunterhändler Roberto Balzaretti am Kongress in Visp vor die Auslandschweizer tritt. Der Staatssekretär für europäische Angelegenheiten wirkt locker und charmant. Er verteilt Komplimente. Die Auslandschweizer als Auswanderer und Rückkehrer brächten Sauerstoffzufuhr, Horizonterweiterung und Innovation ins Land. Durch Auslandschweizer werde die Schweiz ein Teil der Welt.

Balzaretti unterstreicht insbesondere die enge Beziehung der Auslandschweizer mit der EU. 62 Prozent von ihnen leben in Europa. 457 000 Schweizerinnen und Schweizer sind in einem Mitgliedstaat der EU oder der EFTA wohnhaft. Drei Viertel davon leben in den direkten Nachbarländern der Schweiz.

"Das ist Win-win"

Die enge Bande beruht auf Gegenseitigkeit: In der Schweiz leben 1,5 Millionen EU-Bürger, es gibt 320 000 Grenzgänger, und die EU profitiert im Verkehr mit der Schweiz von 40 Milliarden Franken Handelsbilanzüberschuss.

"Das ist Win-win", sagt Balzaretti, "es wurden Arbeitsplätze geschaffen, weil die Leute, die zu uns kommen, gut sind." Dann fügt er an: "Diese Zahlen zeigen aber auch, dass wir eine geordnete Situation brauchen."

Der Staatssekretär verlässt nun den vorbereiteten Text seiner Rede. Er wirkt noch immer charmant, jetzt aber nicht mehr locker, eher konzentriert, ernst. "Zurzeit haben wir eine schwierige Frage zu lösen. Nämlich jene, dass der Bundesrat bestrebt ist, das Verhältnis zur EU langfristig zu stärken, unter Wahrung der grösstmöglichen Souveränität. Dafür brauchen wir ein rechtliches Instrument: das institutionelle Abkommen."

Geduldig und Schritt für Schritt erklärt der Spitzendiplomat, warum dieses Rahmenabkommen für die Schweiz Sinn mache. Seine Hände zeichnen Linien und Treppen in die Luft. Er sucht den Augenkontakt mit dem Publikum. Leidenschaft steigt in ihm auf. Die Sätze kommen messerscharf formuliert, abwechselnd auf Französisch und Deutsch. Dann folgt eine Kunstpause. Seine Stimme wird leiser, er wechselt in den Erzählton: "Was ich in meinen Jahren als Diplomat gelernt habe: Man kann keine Aussenpolitik machen, wenn man nicht weiss, was man will."

Man könne auch nicht vom andern erwarten, dass er die Lösung bringe, wenn man sich selbst nicht einig sei. Die Auslandschweizer im Saal von Visp hängen an seinen Lippen. Da ist es, das Charisma des "wieselflinken Vollkontaktkämpfers" (Weltwoche), das die Schweizer Presse dem smarten Staatssekretär wiederholt attestiert hat.

"Wir müssen mit selbstbewusster Bescheidenheit auf konsensfähige Lösungen hinarbeiten", fordert Balzaretti am Ende.

"Weil das ist, was wir sind: Wir sind selbstbewusst, weil wir gut sind. Wir sind bescheiden."

Der Satz wirkt abgeschnitten. Gute Diplomaten haben die Fähigkeit, Dinge zu sagen, indem sie auch mal etwas nicht sagen. Es fehlte: "Und wir sind konsensfähig".  © swissinfo.ch

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.