2005 sagten die Schweizer in einer Volksabstimmung Ja zu einem Moratorium für den Einsatz gentechnisch veränderter Organismen (GVO) in der Landwirtschaft. Nun will eine Gruppe noch weiter gehen und synthetische Pestizide in der Schweiz verbieten. Diese Initiative stösst bei der Landwirtschaft und der Industrie bereits auf grossen Widerstand.

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"Sie haben Milliarden, aber wir haben 8 Millionen Konsumenten und Bürgerinnen auf unserer Seite", erklärt Etienne Kuhn in überzeugtem Ton. Der 43 Jahre alte Neuenburger, bei Sony Music Schweiz in der Abteilung Verkauf und Marketing tätig, steht hinter der Volksinitiative "Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide", die im November 2016 offiziell lanciert wurde.

Vor der mächtigen Lobby der Agrochemie, die in der Schweiz durch den Basler Konzern Syngenta vertreten ist, hat Kuhn keine Angst. Und er ist überzeugt, dass sein Begehren bei seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf ein positives Echo stossen wird.

"Auf den Strassen brauchen wir nicht einmal fünf Sekunden, um die Leute zu überzeugen, die Initiative zu unterschreiben. Sie haben generell die Nase voll, was Pestizide angeht. Deshalb ist der Moment gekommen, dem Volk in dieser entscheidenden Frage das Wort zu geben", erklärt er.

Sein persönliches Engagement ist über die letzten fünf Jahre gewachsen, vor allem während seinen vielen beruflich bedingten Reisen. "Am Anfang interessierte ich mich einfach für die Frage und las Artikel dazu, wie irgendjemand. Danach begann ich mit Bauern, Biologen, Politikern, Kinderärzten und gar Neurologen zu sprechen. Ich war entsetzt darüber, dass die Regierungen untätig bleiben, obschon die Gefahren dieser Pestizide anerkannt werden und auch bereits wirtschaftlich tragfähige Alternativen existieren."

Ein Winzer und ein Garagist

Überzeugt davon, dass diese politische Blockade nur mit einer staatsbürgerlichen Aktion beendet werden könne, setzte sich Kuhn, der sich selber als "pragmatische" Person betrachtet, daher in den Kopf, die Schweizer Bundesverfassung entsprechend zu ändern.

Seine Initiative verlangt in einfachen, nach Ansicht seiner Gegner in grob vereinfachenden, Worten ein völliges Verbot von Einsatz und Einfuhr von synthetischen Pestiziden auf Schweizer Territorium.

Die Initiative wird von weiteren Bürgern mitgetragen. Wie Kuhn sind sie nicht in politisch etablierten Kreisen aktiv, sind unterschiedlichster Herkunft und gehen verschiedensten Berufen nach. So findet man im Initiativ-Komitee etwa einen Winzer, einen Biologieprofessor, einen Unternehmer und einen Garagenbesitzer. Was sie verbindet: Sie leben alle im Kanton Neuenburg und sind leidenschaftliche Verfechter einer biologischen und nachhaltigen Landwirtschaft.

200'000 Tote pro Jahr

"Wir sind keine Bande extremer Umweltschützer, sondern einfach Personen, die sich um ihre Gesundheit und die ihrer Kinder Sorgen machen." Ihre Lebensumstände hätten dazu geführt, dass sie nun gemeinsam hinter diesem Projekt stünden, erklärt Laurent Berset, der im Bundesamt für Topografie arbeitet und Mitglied des Initiativ-Komitees ist.

Die Initianten reiten auf einer Welle des globalen Misstrauens gegenüber Pestiziden. Sie können sich vor allem auf einen Bericht stützen, der am 8. März im Menschenrechtsrat der UNO in Genf vorgestellt wurde und eine vernichtende Bilanz zieht, was die katastrophalen Folgen des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln (phytosanitäre Produkte) auf die Umwelt, die menschliche Gesundheit und die Gesellschaft insgesamt angeht.

Dem Bericht zufolge sind Pestizide weltweit jedes Jahr für den Tod von fast 200'000 Menschen verantwortlich, 99Prozent dieser Todesfälle entfallen auf Entwicklungsländer. Dabei sind die UNO-Experten heute überzeugt, dass es möglich wäre, 9 Milliarden Menschen ohne den Einsatz von synthetischen Pestiziden zu ernähren.

Die Schweiz als Modell?

"Mit ihrer direkten Demokratie hat die Schweiz eine beispiellose Chance, dem Rest der Welt mit gutem Beispiel voranzugehen und als Pionierin auf diese toxischen Produkte zu verzichten, die zu einer Landwirtschaft der Vergangenheit gehören", erklärt Laurent Berset.

Sollte man in diesen Worten eine gehörige Portion Utopie erkennen, der an den Urnen eine Abfuhr droht, wie im Juni 2016, als die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen von fast 80 Prozent der Stimmenden abgelehnt worden war? Nicht so sicher.

Die Geschichte zeigt in der Tat, dass Schweizerinnen und Schweizer eine besondere Sensibilität an den Tag legen, wenn sie darüber zu entscheiden haben, was auf den Teller kommt. So hatten sie 2005 in einer Volksabstimmung ein fünfjähriges Moratorium angenommen, das den Einsatz von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) in der Schweizer Landwirtschaft verbot. Das Moratorium wurde seither unter Druck der Bevölkerung vom Parlament bereits drei Mal verlängert.

Gegner auf Kriegsfuss

Auch wenn die Leute, die hinter der Initiative stehen, von einem "verrückten Wunsch, das aktuelle System zu zerstören" angetrieben werden, sehen sie sich mit starken Gegnern konfrontiert: Eine Mehrheit der Politik und der Landwirtschaft sowie die agrochemische Industrie mit ihrem Umsatz von weltweit fast 50 Milliarden Dollar pro Jahr.

"Diese radikale Initiative hätte zur Folge, dass die inländische Produktion um 20 bis 30Prozent zurückgehen würde, dass die Nahrungsmittelsicherheit das Landes geschwächt und die Abhängigkeit vom Ausland wachsen würde", sagt Jacques Bourgeois, freisinniger Abgeordneter (Freisinn.Die Liberalen/rechtsbürgerlich) im Schweizer Parlament und Direktor des Schweizer Bauernverbands (SBV).

Auch Scienceindustries, der Dachverband der Schweizer Chemie-, Pharma- und Biotech-Industrie, wartete nicht auf die offizielle Lancierung der Initiative, um seine Argumente in Form zu bringen und gegen die Vorlage ins Feld zu ziehen. "Eine produzierende Landwirtschaft ist auf Pflanzenschutzmittel angewiesen. Ohne Pflanzenschutz würden in der Schweiz grosse Mengen an landwirtschaftlichen Produkten fehlen", erklärt Anna Bozzi, bei Scienceindustries zuständig für Landwirtschaft und Ernährung.

Sie prangert auch das generelle Verbot an, das sei keine wissenschaftlich fundierte Herangehensweise an das Thema: "Es ist nahezu unmöglich, Pflanzenschutzmittel in 'chemisch-synthetisch' und 'nicht-chemisch-synthetisch' einzuteilen. Auch die im biologischen Anbau zugelassenen Pflanzenschutzmittel sind zum Teil chemische Verbindungen und werden mit modernen, industriellen Prozessen hergestellt."

Initiative nicht umsetzbar?

Sciencesindustries, der SBV und andere Gegner des Begehrens ziehen auch noch einen anderen Angriffwinkel in Betracht: Aus ihrer Sicht ist diese Initiative nicht umsetzbar, weil sie gegen die internationalen Verträge und Wirtschaftsabkommen verstosse, welche die Schweiz unterzeichnet hat. "Wir haben den Initiativ-Text nicht leichtfertig verfasst, und die Schweiz ist meines Wissens noch immer ein souveränes Land", entgegnet Kuhn darauf.

Zudem sehe die Initiative für die Umsetzung eine Frist von zehn Jahren vor, was den Bauern erlauben würde, sich nach und nach an diese neue Art und Weise der nachhaltigen Produktion anzupassen. "Ein Schritt, den Tausende von Bauern in unserem Land in einer viel kürzeren Zeitspanne bereits mit Erfolg getan haben", so Kuhn.

Die Bundesbehörden, die im letzten Jahr einen Aktionsplan lancierten, mit dem die mit Pflanzenschutzmittel verbundenen Risiken im Verlauf der nächsten zehn Jahre um die Hälfte verringert werden sollen, wollten sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht äussern. "Da die Unterschriftensammlung für die Initiative noch läuft, hat die Eidgenossenschaft noch nicht Stellung bezogen. Das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) ist daher weder für noch gegen" die Initiative, erklärt BLW-Sprecherin Florie Marion.

Sie können den Autor dieses Artikels auf Twitter kontaktieren: @samueljaberg


(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)  © swissinfo.ch

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