"Polarisierung" ist das zentrale Stichwort für die Analyse von Schweizer Wahlen. Die Parteienlandschaft entwickelt sich dabei von der Bi- zur Tri-Polarisierung.

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Parteien werden heute nicht stärker, wenn sie Wechselwähler zwischen den drei Polen ansprechen wollen. Sie wachsen, wenn sie einen eigenen Pol bilden und dort Neuwählende mobilisieren können.

Der Sog hin zur Mitte ist vorbei

Die Bilanz über kantonale Wahlen in der laufenden Legislatur ist ein recht zuverlässiger Seismograph dafür, was bei den nächsten Schweizer Wahlen im Oktober 2019 geschieht. Gemäss den neuesten Übersichten für die Nationalratswahlen 2019 hat es bei der FDP, SP und GPS gefunkt, nicht aber bei BDP, CVP und SVP. Halten kann sich einzig die GLP (siehe Parteien-Box am Schluss).

Meine These für die Wahlen 2019 lautet: Der Sog hin zur Mitte ist vorbei. Der früher gebräuchliche Fachbegriff "zentripetal" ist völlig unüblich geworden. Der heutige Trend ist "zentrifugal". Selbst Bundespräsident Alain Berset ortet das Entstehen einer Demokratie mit gleich vielfach divergierenden Tendenzen.

Politlandschaft besteht aus drei Lagern

Nationale Wahlen der letzten Jahre zeigen denselben Effekt: Die Wahlbeteiligung steigt an, die Pole werden stärker, die traditionelle Mitte schwächelt. Entscheidend ist die Mobilisierung denkbarer Wählerinnen und Wähler. Sie ist heute wichtiger als die Gewinne und Verluste aus dem Wechselwählen und der Panaschierbilanz.

Die tripolare Schweizer Politlandschaft besteht aus diesen drei Lagern:

● dem nationalkonservativen, beherrscht von der SVP

● dem linken, bestimmt von der SP und GPS

● und neu: dem rechtsliberalen Lager, dominiert von der FDP.

Nicht entstanden ist in der Schweiz ein sozialkonservativer Pol. Wählende, die sich hier sehen, stimmen selten, und wenn, dann wählen sie eher die SVP, SP oder GPS - aber kaum die CVP.

Oder mit einem Bild: Das schweizerische Parteienspektrum entwickelt sich zum Dreipol-Stecker.

Politisches Spektrum wird erweitert

Symptomatisch dafür ist das rasche Anwachsen von Jungparteien in der Politlandschaft. Einige von ihnen verhelfen Forderungen zum Durchbruch, die von den Mutterparteien lange für undenkbar gehalten wurden. Die Junge SVP war mit ihren radikalen Positionen in der Asylpolitik zuerst. Es folgten die JUSO, die heute mit der 99%-Initiative für eine Umverteilungspolitik kämpft. Jetzt steigen die Jungfreisinnigen mit ihrer Position für ein erhöhtes Rentenalter auf.

Ihnen gemeinsam ist die Erweiterung des relevanten politischen Spektrums der Schweiz. Ausgehandelte Kompromisse im institutionalisierten Prozess der Willensbildung interessiert ebenso wenig wie die Beschlüsse der Fraktionen im Parlament. Denn Radikalität ist das Programm der nächsten Generation, und die neuen Medien sind ihre Waffen. Ihr Ziel: Mit Abgrenzung gegen die gestandene Politik neue Menschen für sich zu gewinnen.

Die Nahtstellen der aufkommenden politischen Konflikte finden sich bei der Definition des Staats und der Verwendung der öffentlichen Finanzen. Liberale Wirtschaftsvorstellungen stellen die Staatswirtschaft frontal in Frage.

Und zwischen Sparprogrammen, militärischer Aufrüstung und solidarischer Gesellschaftspolitik tobt ein Kampf um Steuergelder und deren Verwendung.

Zentrum kaum mehr sichtbar

Dabei schwindet der Konsens. Die letzten zwei Jahre stehen exemplarisch dafür: Zuerst siegte 2016 die Linke mit dem Referendum gegen die bürgerlich geprägte Unternehmenssteuerreform. 2017 revanchierten sich dann die Rechtsliberalen mit ihrer Opposition gegen die Rentenreform. Ein vermittelndes Zentrum wird kaum mehr sichtbar.

Eigentlich hätten die CVP, BDP und GLP die vielfach geforderte "neue Mitte" in der Schweiz bilden sollen. Doch der 2011 angelegte Wurf misslang. Das Machtvakuum im Zentrum wird täglich sichtbarer. Die FDP ging von Anfang an einen anderen Weg; sie verabschiedete sich 2011 aus der Mitte und bestimmt heute den rechtsliberalen Pol weitgehend allein. Die drei früheren Mitstreiter grenzen sich irritiert davon ab:

● die CVP mit einer pointiert konservativen und moderat sozialen Ausrichtung

● die BDP ebenso mit einer mehr konservativeren Politik, wenn auch auf Basis liberaler Werte

● und die GLP mit einem Öko-Liberalismus.

Unvorteilhaft sieht es gegenwärtig für die BDP bzw. CVP aus. Der Spagat zwischen den Polen will schon bei den regionalen Wahlen nicht wirklich gelingen. Die CVP gewinnt weder in den Stammlanden noch in den Städten. Die BDP verliert nicht nur, wo sie schwach war, sondern auch in den wenigen Hochburgen.

Die Funken springen zwar, jedoch nicht zwischen den Polen, sondern sie elektrisieren diese!  © swissinfo.ch

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