Solch ein Verhalten kennt man eigentlich nur aus schlechten Agentenfilmen: Laut einer internationalen Medienrecherche unter Leitung von "Correctiv" lässt der türkische Geheimdienst politische Gegner im Ausland und in der Türkei kidnappen, verschleppen und in geheimen Foltergefängnissen gefügig machen.

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Wenn es um seine erbittertsten Gegner geht, spielt Recep Tayyip Erdogan mit offenen Karten.

"Wir werden den Kampf gegen die Gülenisten so lange fortsetzen, bis wir sie komplett ausgemerzt haben. (…) Die Gülenisten, die geflohen sind und sich jetzt in Sicherheit wähnen, bringen wir einzeln zurück ins Land und übergeben sie der Justiz unseres Landes", erklärte der türkische Präsident am 7. Juli bei einer AKP-Sitzung im türkischen Parlamentsgebäude.

Weltweites Entführungsprogramm für politische Gegner

Und offenbar reicht der Arm der türkischen Regierung auch über die eigenen Staatsgrenzen hinaus.

Laut einer internationalen Medienrecherche unter Leitung des Rechercheverbunds "Correctiv" betreibt die Türkei offenbar ein Entführungsprogramm, um weltweit politische Gegner aufzuspüren und in türkische Gefängnisse zu verschleppen. Aus Deutschland ist das ZDF-Magazin "Frontal21" an den Recherchen beteiligt.

In der am Dienstag auf blacksitesturkey.com* veröffentlichten Recherche werden der Kosovo, Gabun, der Sudan, die Republik Moldau, Aserbaidschan, die Ukraine und Malaysia als Länder genannt, aus denen der türkische Geheimdienst MIT mutmassliche Gülen-Anhänger entführt haben soll.

Die Betroffenen seien dann in geheime Folterzentren in der Türkei gebracht worden. Ziel der Verschleppung und der Misshandlung sei, falsche Zeugenaussagen für Prozesse gegen Gülen-Anhänger zu erpressen, so der Vorwurf des Recherche-Teams.

Wochenlange Folter: Schläge und Androhung sexueller Gewalt

Bei "Frontal21" berichteten zwei Opfer übereinstimmend - und unabhängig voneinander -, sie seien auf offener Strasse in der Türkei in dunkle Transporter gezerrt und mit einem Sack über dem Kopf in ein Geheimgefängnis gebracht worden.

Beide Männer sagen, sie seien erst nach wochenlanger Folter freigelassen worden, nachdem sie sich zum Schein für Aussagen als "anonyme Zeugen" bereit erklärt hätten. Sie konnten sich jedoch ins Ausland absetzen.

Einer der Männer berichtet von Schlägen, Drohungen mit sexueller Gewalt. "Sie haben mich unterhalb der Gürtellinie ausgezogen und auf den Boden in eine Stressposition gelegt." Dann hätten sie gedroht: "Was wir mit dir machen, werden wir auch mit deiner Frau tun, mit deiner Mutter, mit deinem Vater."

Der zweite Zeuge will Elektroschläge und stundenlanges Stehen in einem engen Schrank erlebt haben. "Aus dem Lautsprecher kamen Anweisungen. Wenn man nicht mehr kann, fällt man auf den Boden und dann gab es Faustschläge und Tritte."

Menschenrechtsorganisationen sehen sich bestätigt

Die Ausführungen der beiden Opfer "Ali und "Tolga" - "Frontal21" und "Correctiv" kennen ihre wahren Identitäten – sind in den Augen mehrerer Menschenrechtsorganisationen glaubwürdig.

"Wir müssen davon ausgehen, dass das systematisch ist", sagt Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch Deutschland.

Auch dem türkischen Menschenrechtsverein IHD liegen Berichte von Angehörigen vor, wonach Opfer auf offener Strasse verschleppt worden seien, "mit einem schwarzen Kleintransporter mit dunklen Scheiben", wie Öztürk Türkdogan, Vorsitzender des IHD, gegenüber "Frontal21" erklärte.

Erdogans Regierung geht seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 mit grosser Härte gegen die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen vor, die sie für den Umsturzversuch verantwortlich macht.

Seitdem wurden Zehntausende mutmassliche Gülen-Anhänger festgenommen oder aus dem Staatsdienst entlassen. Tausende suchten Zuflucht im Ausland, insbesondere in Deutschland, wo die umstrittene Bewegung über ein dichtes Netzwerk verfügt.

Erdogans ehemaliger Verbündeter befindet sich seit 1999 im Exil in den USA. Bisherige Forderungen nach seiner Auslieferung hatten keinen Erfolg.

Bundesregierung hat Hinweise auf geheime türkische Folterstätten

Die türkische Regierung hat bislang nicht auf Nachfragen zu den aktuellen Vorwürfen reagiert. Und was sagt die Bundesregierung dazu?

Auf eine parlamentarische Anfrage der Linken im Bundestag antwortete sie im November 2018: "In den allermeisten Fällen dürfte es sich bei den zwangsweisen Rückführungen nach Kenntnis der Bundesregierung jedoch um offizielle Massnahmen der jeweiligen Gastländer handeln, die von türkischer Seite zwar initiiert, von dieser aber nicht eigenständig auf fremdem Staatsgebiet durchgeführt wurden."

Die islamisch-konservative Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit (AKP) von Präsident Erdogan war lange mit der Gülen-Bewegung des islamischen Predigers verbündet, bevor sich Gülen und Erdogan 2013 im Kampf um Posten und Macht überwarfen.

Heute wirft Erdogan der religiösen Bruderschaft vor, die staatlichen Institutionen unterwandert und versucht zu haben, ihn bei dem Militärputsch zu stürzen.

Seit dem gescheiterten Putschversuch und der anschliessenden Säuberungs-Aktion hätte die Gülen-Bewegung durchaus Gründe, sich international als Opfer darzustellen und Berichte über Folter zu lancieren, um Erdogans Regierung zu diskreditieren.

Die an der Recherche beteiligten Medien hegen allerdings keine Zweifel an den Darstellungen von "Ali" und Tolga", ihre Glaubwürdigkeit wurde mehrfach auf die Probe gestellt.

Aus einem internen Papier des Auswärtigen Amtes zur Situation in der Türkei vom Februar 2017 geht zudem hervor, dass der Bundesregierung schon länger Hinweise auf geheime türkische Folterstätten vorliegen. (hub/afp/ZDF)

*BlackSitesTurkey ist eine Kooperation des ZDF-Magazins "Frontal 21", "Le Monde", "El Pais", "Il fatto quotidiano", "Addendum", "Haaretz", "TT", "Mandag morgen" koordiniert von "Correctiv".

Verwendete Quellen:

  • ZDF-Pressemitteilung: "Frontal 21" berichtet über Kidnapping im Auftrag Erdogans
  • "Correctiv": BlackSitesTurkey.com
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