Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wollen die Bundesverfassung nicht absolut über das Völkerrecht stellen: Sie lehnten die Selbstbestimmungs-Initiative mit mit 66,2% Nein ab. Die Niederlage der SVP ist flächendeckend, sagte doch kein einziger Kanton Ja zur Vorlage.

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Mit Zweidrittels-Mehrheit sagte das Stimmvolk klar Nein zur Selbstbestimmungs-Initiative (SBI). Die Befürworter kamen also auf gerade mal 33,8%. In Zahlen: 1'712'999 Bürger lehnten die Vorlage ab, 872'803 legten ein Ja ein.

Damit scheiterte die Volksinitiative der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) klarer, als es sich in den Umfragen angedeutet hatte. Bemerkenswert: Die Vorlage scheiterte nicht nur im Volk, sondern auch in den Ständen.

Die Stimmbeteiligung lag bei 47%. Dies ist ein bescheidener Wert, doch liegt er immer noch leicht über dem Schnitt der Abstimmungen seit der Jahrtausendwende.

SVP vom Start weg isoliert

"Das ist eine klare Schlappe für die SVP", sagte Politikwissenschaftler Lukas Golder in seiner Analyse am Schweizer Fernsehen (SRF). "Die SVP hat nur die eigenen Reihen und ein paar Zerquetsche mobilisieren können. Aus der Mitte aber hat sie keinen Support erhalten."

Auf dem Land habe aus SVP-Sicht eine Demobilisierung stattgefunden, im Gegenzug hätten die Linken und die Grünen in den Städten und Agglomerationen erfolgreich mobilisiert.

Bei der bei Initiative habe es sich um eine Reform der Institutionen gehandelt, und hier schaffe es die SVP klar nicht, Mehrheiten zu finden, sagte der Co-Leiter des Forschunginstituts gfs.bern weiter. Denn das Kerngeschäft der Partei seien gesellschaftspolitische Themen wie Migration, Identität und Souveränität, innere Sicherheit oder die Bestrafung schwerer Straftaten. Bei solchen Vorlagen habe die SVP den Ausnahmefall geschafft und mehrere ihrer Initiativen durchgebracht.

"Im Fall der Selbstbestimmungs-Initiative aber war die SVP als Urheberin von Anfang an isoliert, die anderen Parteien waren klar dagegen", sagte Golder. Die übrigen Parteien hätten mittlerweile zu einer Routine gefunden, um auch die Kernanliegen der SVP zu bekämpfen. "Die SVP wollte bei der Selbstbestimmungs-Initiative über die direkte Demokratie der Schweiz reden, aber das hat sie nicht geschafft."

Harter Gegenwind aus der Westschweiz

Dazu hätten die Medien die Schwachpunkte der Vorlage – Rechtsunsicherheit und internationale Isolation – von Anfang an benannt.

Besonders ausgeprägt war der Gegenwind für die SVP-Vorlage in der Westschweiz. Diese habe bereits die Durchsetzungs-Initiative klarer abgelehnt als die übrigen Landesteile, sagte Golder. Jetzt sei die SVP-Niederlage in der französischsprachigen Schweiz noch schärfer ausgefallen.

Im Kanton Waadt fiel die Vorlage mit 76,6% durch, im Kanton Genf betrug der Nein-Anteil 75,3%. im Kanton Freiburg 72,6%. Aber auch in der Deutschschweiz sagte keine Kanton Ja zum SVP-Begehren.

Die grösste Zustimmung kam aus Schwyz und Appenzell Innerhoden mit 47,1% resp. 47,0%, gefolgt vom Tessin mit 46,1%.

SVP-Präsident Rösti sieht Erfolge

Ausser Spesen nichts gewesen also für die Verliererin SVP? Davon wollte Albert Rösti nichts wissen. "Wenn der Bundesrat den UNO-Migrationspakt jetzt auf Eis gelegt hat, haben wir schon sehr viel erreicht", so der SVP-Präsident.

"Wir wollten mit der Initiative über die direkte Demokratie reden. Aber plötzlich sagten die Gegner bis zu Bundesrätin Simonetta Sommaruga, dass sie die direkte Demokratie aufrechterhalten wollen." Die SVP werde die Gegner sehr genau an deren eigenen Worten messen, sagte Rösti gegenüber Schweizer Radio SRF.

Hans-Ulrich Vogt, der Kopf hinter der SBI, zeigte sich enttäuscht. Der Zeitpunkt für die Vorlage sei zu früh gekommen, interpretierte der SVP-Nationalrat am Schweizer Fernsehen SRF das klare Nein. "Eventuell sind wir auch etwas zu früh gewesen, um zu zeigen, warum die direkte Demokratie einen langsamen Tod stirbt", sagte Vogt. "Das war vielleicht ein Fehler."

Die Sieger bildeten von Anfang an eine breite Front, die aus den übrigen Parteien, den Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und Menschenrechts-Organisationen bestand.

Bei Andrea Huber von der Allianz für Zivilgesellschaften herrschte grosse Erleichterung: "Ein tonnenschwerer Stein fällt von unseren Schultern", sagte sie. "Die Schweizer Bevölkerung hat sich nicht in die Irre führen lassen von der faktenfreien Kampagne der SVP."

Laura Zimmermann von der Operation Libero kommentierte das deutliche Resultat so: "Je gefährlicher eine Initiative, desto mehr stehen die Leute auf." Auf den Plakaten der SVP sei das Thema "sehr weichgespült" dahergekommen, so Zimmermann. Auf den sozialen Plattformen habe man dagegen andere Töne vernehmen können.

Für Amnesty International ist das Nein der Schweizer Stimmbevölkerung ein klares Bekenntnis zum Völkerrecht. In einer Zeit, in der viele Länder versuchten, den internationalen Menschenrechtsschutz zurückzudrängen, hätten die Schweizer Stimmberechtigten ein wichtiges Signal ausgesandt.

Zeichen für weltoffene Schweiz

Die Direktorin des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse, Monika Rühl, wertete das Nein zur Selbstbestimmungsinitiative als Ja zu einer weltoffenen Schweiz. Es gehe schliesslich um ein Kernanliegen der Wirtschaft, um den Zugang zu internationalen Märkten.

Dies gilt nach Monika Rühl insbesondere auch für die Exportnation Schweiz mit ihren vielen Verträgen – es sind rund 600 an der Zahl – die wichtig seien für die Wirtschaft, die den Marktzugang sicherten und die Investitionen absicherten.

Der Schweizerische Gewerbeverband (SGV) sieht im Ergebnis ein klares Zeichen gegen wirtschaftspolitische und aussenpolitische Abschottung. Mit der Ablehnung der SBI hätten die Stimmenden einmal mehr zum Ausdruck gebracht, dass sie auf eine offene Volkswirtschaft setzten und das Freizügigkeitsabkommen mit der EU nicht aufs Spiel setzen wollte.

Grundrechte unangetastet

Eine Annahme der Selbstbestimmungsinitiative hätte nach Ansicht des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) die Schweizer Gerichte geschwächt und die Durchsetzung der Menschenrechte erschwert. Das Nein sei damit eine deutliche Absage an eine Abschottungspolitik, die dem Lohnschutz und dem Schutz der Arbeitnehmenden schade.

Für den Arbeitnehmenden-Dachverband Travail.Suisse hat das Stimmvolk deutlich Nein gesagt zum SVP-Frontalangriff auf die demokratischen Rechte der gesamten Schweizer Bevölkerung. Mit der Ablehnung der Initiative erspare sich die Schweiz unnötige Diskussionen über die Auslegung des unklar formulierten Initiativtextes.

Bereits im Vorfeld hatte vieles auf ein Nein hingedeutet: In zwei Befragungen, die gfs.bern Mitte Oktober und Anfang November publiziert hatte, gaben 55% resp. 61% der Befragten an, die SBI abzulehnen.

Eine klare Mehrheit des Schweizer Stimmvolks will also nichts wissen von einer Neuordnung des Rechtssystems. Gemäss ihrer Initiative wollte die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) bewirken, dass für die Politik und die Gerichte in der Schweiz die Bundesverfassung massgebend ist. Das internationale Völkerrecht wäre dem Landesrecht untergeordnet geworden.

Regierung erfreut

Justizministerin Simonetta Sommaruga zeigte sich erfreut über das Ergebnis. Dieses bestätige frühere Entscheide des Schweizer Volkes. Sommaruga erwähnte das Nein zur Forderung, dass Staatsverträge dem Volk vorgelegt werden müssten, das Nein zur Wahl der Schweizer Regierung durch das Volk sowie die Ablehnung der Durchsetzungs-Initiative.

Das Nein zur Selbstbestimmungs-Initiative sei also nicht zufällig, denn in der Schweiz sei es nicht das Volk, das alles entscheide. Vielmehr, so die Bundesrätin, herrsche zwischen den Akteuren ein Ausgleich, der zu Kompromissen zwinge. "Aber stets bleibt das letzte Wort bei den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern. Sie wissen, dass die Schweiz ohne Kompromisse nicht vorwärts kommt."

Sommaruga hob noch hervor, dass die Abstimmungskampagnen, auch wenn sie teils emotional wie jene zur SBI verlaufen, Bürgerinnen und Bürger motivierten, sich zu engagieren. Genau darin liege Sinn und Zweck einer direkten Demokratie.  © dpa

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