Sergey Lagodinsky sitzt für Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament. Im Interview spricht er über die antisemitischen Ausschreitungen in Dagestan, die Situation der russischen Juden und die Israel-Politik der EU.
Am Sonntag brach eine aufgebrachte Menge in den Flughafen im russischen Dagestan ein, um nach israelischen Passagieren zu suchen. Die jüdische Gemeinschaft in der Region ist seit mehreren Tagen Ziel antisemitischer Angriffe. Sergey Lagodinsky entsetzen diese Ereignisse.
Er kam 1993 als jüdischer sogenannter Kontingentflüchtling aus Russland nach Deutschland. Heute sitzt er als Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament, wo er sich unter anderem mit Aussenpolitik beschäftigt. Am Telefon sprechen wir mit ihm über die Situation in Dagestan, die Gefahrenlage für jüdisches Leben weltweit und die Positionierung der EU im Nahostkonflikt.
Herr Lagodinsky, am Sonntagabend stürmte eine Menschenmenge den Flughafen im russischen Dagestan auf der Suche nach Passagieren aus Israel. 20 Menschen soll dabei verletzt worden sein. Wie erklären Sie sich dieses Ereignis?
Dieser Vorfall wurde durch rücksichtslose, hasserfüllte Propaganda und Agitation vorbereitet. Das waren Menschen, die – von einer islamistischen Ideologie motiviert – antisemitische Pogrome veranstalten wollen. Wir haben es im russischen Nordkaukasus mit einer traditionalistischen, manche würde sagen archaischen, Version des Islam zu tun, der sich nach dem Ende der Sowjetunion gebildet hat. Von der zentralen Macht in Moskau wird dieser genutzt, um die Region besser beherrschen zu können. Das trifft nun auf eine Emotionalisierung des Krieges in Gaza. Wenn Erdogan in der Türkei vor Tausenden Hass gegen Israel schürt, und in Malaysia oder in Indonesien dasselbe passiert, dann finden sich auch Menschen im Nordkaukasus, die diesem Beispiel folgen. Das geht in der Region schon seit mehreren Tagen so.
Welche Vorfälle hat es dort noch gegeben?
Es gab eine Demonstration vor einem Hotel, in dem sich angeblich israelische Touristen aufhielten. Die Polizei ging in vorauseilendem Gehorsam mit einigen der Demonstrierenden durch die Zimmer und hat auf der Suche nach Israelis die Pässe der Gäste kontrolliert. Ausserdem wurde das Jüdische Zentrum in der Stadt Naltschik angezündet. Die Situation für Jüdinnen und Juden im Nordkaukasus ist prekär.
Gibt es etwas, das die Europäische Union beziehungsweise ihre Mitgliedsstaaten kurzfristig tun können?
Es bringt wenig zu fordern, dass die Juden aus der Region evakuiert werden. Diese ist ein Teil der Russischen Föderation, die das nie mitmachen würde. Deutschland hätte aber zum Beispiel die Möglichkeit, Verfahren für sogenannte Kontingentflüchtlinge jüdischer Herkunft zu beschleunigen. Darüber hinaus sollte Europa mit Blick auf den Nahostkonflikt verbal deeskalieren. Manche Regierungen agitieren derzeit einseitig pro-palästinensisch. Wir müssen auch, angefangen mit der Türkei, auf unsere Partnerinnen und Partner im Ausland einwirken, eine Sprache abzustellen, die den Hass weiter hochschaukelt. Erst recht, wenn diese auf Fake News und blossen Unterstellungen gegen Israel beruht.
In vielen EU-Ländern gibt es derzeit ebenfalls vermehrt antisemitische Vorfälle. Wie gefährlich ist die Situation für Jüdinnen und Juden in der Europäischen Union?
Hier muss man ebenfalls regional differenzieren. Es gab etwa in Frankreich und Deutschland auch vor dem Krieg in Gaza bereits antisemitische Angriffe. Diese Gefahr müssen wir ernst nehmen. Noch kann man diese zeitlich und örtlich lokalisieren: in bestimmten Bezirken und zu bestimmten Anlässen. Ich hoffe sehr, dass die Sicherheitsbehörden alles Mögliche tun, um diese Gefährdungslagen zu kontrollieren. Das ist nicht nur ein Problem für Juden: Wir haben es mit terroristischen Organisationen zu tun, die verschiedene Leute treffen können, wenn sie fest entschlossen sind, bei uns Unruhe zu stiften.
Israel ist als Schutzraum für alle Jüdinnen und Juden gedacht. Der Hamas-Angriff vom 7. Oktober hat diese Idee erschüttert. Finden Sie, dass die Europäische Union bisher angemessen auf diese historische Zäsur reagiert hat?
Ich kriege in Brüssel die Perspektiven verschiedener Länder mit. Ich finde, dass Deutschland eine sehr klare Linie fährt, die diese Zäsur für Israel berücksichtigt. Österreich oder Tschechien tun das auch. Aber schon bei Spanien und Frankreich geht es los mit relativierenden Aussagen, die den Boden für solche emotionalisierte israelfeindliche Angriffe bereiten, die wir gerade vielfach sehen. Das macht mir grosse Sorgen. Europa muss seine Rolle im Nahen Osten wiederfinden. Ausgangspunkt muss eine klare Verurteilung des Hamas-Angriffs sein, die nicht im zweiten Schritt sofort relativiert wird. Natürlich müssen wir die humanitäre Lage in Gaza im Blick behalten. Das kann aber nicht bedeuten, dass wir die existenzielle Bedrohungssituation für Israel sowie für Jüdinnen und Juden weltweit kleinreden. Das passiert aber leider gerade in vielen anderen Ländern.
Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die gemeinsame Erklärung der EU-Staaten, in der "humanitäre Korridore und Pausen für humanitäre Zwecke" in Gaza gefordert werden?
Diese Erklärung war ein guter Kompromiss. Ich finde es richtig, die Möglichkeiten für humanitäre Hilfe in Gaza schaffen zu wollen. Mit der Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand habe ich aber meine Schwierigkeit. Das zieht de facto das Selbstverteidigungsrecht Israels, das man jedem Land völkerrechtlich zugesteht, in Zweifel. Die Situation in Gaza ist tragisch. Auch wenn die berühmt berüchtigte Verhältnismässigkeit von Israel zu erwarten ist, die massgebliche Verantwortung für diese Tragödie trägt die Hamas. Das müssen wir Europäer deutlich aussprechen. In dieser Sache braucht es eine klare Haltung, ansonsten sind wir als Wertegemeinschaft gefährdet.
Sie sind Jude und stehen in der Öffentlichkeit. Wie hat sich Ihr Leben seit dem 7. Oktober verändert?
Es ist eine emotional schwierige Situation, die mir sehr nahegeht. Sie kommt zu meiner sehr persönlichen Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine hinzu, woher meine Vorfahren stammen und wo viele Freunde sind. Ich habe Verbündete und Freunde, die in russischen Gefängnissen gefoltert werden. Die Lage in Nahost bringt mich auch als Völkerrechtler in schwierige Dilemmata. Ich stehe für humanitäre Lösungen ein und sehe trotzdem, dass es auf diese Situation keine einfachen Antworten gibt. Das ist die neue Wirklichkeit, in der wir angekommen sind, und damit müssen wir alle auch emotional und politisch zurechtkommen.
Über unseren Gesprächspartner
- Sergey Lagodinsky ist 1975 im sowjetischen Astrachan, heute Russland, geboren. Als jüdischer Kontingentflüchtling kam er 1993 nach Deutschland. Er promovierte im Bereich der Rechtswissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. 2001 trat er der SPD bei, wo er den Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mitgründete. 2011 wechselte er zu Bündnis 90/Die Grünen, für die er seit fünf Jahren im Europäischen Parlament sitzt. Dort ist er stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres.
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