Die israelische Oppositionspolitikerin Sharren Haskel sieht für ihr Land derzeit nur ein Ziel: den militärischen Sieg über die Terrororganisation Hamas. Dem müsse auch das internationale Ansehen Israels untergeordnet werden, sagt sie im Interview.
Seit einem halben Jahr herrscht Krieg im Nahen Osten. Für Sharren Haskel ist es eine herausfordernde Zeit. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober schloss sie sich mit drei weiteren Abgeordneten der Partei Tikwa Chadascha – Hebräisch für "Neue Hoffnung" – der Notstandsregierung unter
Am Dienstag und Mittwoch war die Oppositionspolitikerin zu Gast in Berlin, um deutschen Politikern ihre Position zu erläutern. "Deutschland stand ab dem ersten Tag an unserer Seite", sagt sie im Interview mit unserer Redaktion. Dass Aussenministerin
Das schreckliche Massaker der Hamas am 7. Oktober ist ein halbes Jahr her. In welchem Zustand befindet sich die israelische Gesellschaft im Moment?
Sharren Haskel: Wir leben immer noch mit diesem Trauma. Der schlimmste Albtraum einer jeden Mutter, eines jeden Elternteils ist wahr geworden. Kinder wurden brutal ermordet, junge Mädchen vergewaltigt, unsere Familienmitglieder wurden entführt. Jetzt werden sie in Kerkern festgehalten, wo sie körperlich, seelisch und sexuell missbraucht werden. Dies ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Versuch des Völkermords, der unserem Volk angetan wurde.
Deutsche Politiker betonen gerne, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist. Wird Deutschland Ihrer Meinung nach diesem Anspruch derzeit gerecht?
Ja. Deutschland stand ab dem ersten Tag an unserer Seite. Ich denke, dass unsere Freundschaft und diese einzigartige Beziehung sehr wichtig sind. Deutschland hilft uns bei der Bekämpfung des Antisemitismus und kämpft mit uns für das Existenzrecht Israels. Ich kann gar nicht sagen, wie viel Kraft es uns gibt, dass wir wahre Freunde haben, die immer noch an unserer Seite stehen.
Die deutsche Aussenministerin, Annalena Baerbock, hat jüngst ziemlich deutliche Worte gefunden. Sie sagte, die israelische Regierung müsse ihr Versprechen halten, zusätzliche Grenzübergänge zum Gazastreifen zu öffnen. Zitat: "Keine Ausreden mehr." Bemerken Sie hier eine Veränderung der Rhetorik gegenüber Israel?
Wir wussten, dass der internationale Druck auf uns zunehmen würde. Aber wir haben von Anfang an gesagt, dass dieser Krieg Zeit brauchen wird, weil wir eine existenzielle Bedrohung beseitigen müssen. Die Hamas will unser Volk und unseren Staat vollständig vernichten. In diesem Guerillakrieg schreckt sie nicht davor zurück, die Palästinenser als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Sie profitieren von der humanitären Krise im Gazastreifen, weil dann mehr Druck auf Israel ausgeübt wird. Aber diese Krise ist nicht auf Israel zurückzuführen. Schuld hat die Hamas, die die Kontrolle über die humanitäre Hilfe übernimmt und einen Grossteil davon an Händler verkauft und so finanziell profitiert.
Tut Israel wirklich genug, um Zivilisten im Gazastreifen zu schützen?
Es gibt keinen einzigen Staat, der mehr Massnahmen ergreift als Israel, um Zivilisten zu schützen. Unsere Armee hat einen moralischen Kodex, der das vorschreibt. Selbst das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium in Gaza sagt, dass unter den 30.000 getöteten Palästinenser 10.000 Hamas-Kämpfer sind. Das Verhältnis von zivilen Opfern zu getöteten Kombattanten ist kleiner als in jedem anderen Krieg.
Sie meinen in jedem vergleichbaren Konflikt unter Bedingungen des Stadt- und Guerillakrieges?
Nein, ich meine jeden Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg. Egal ob in Afghanistan, Syrien oder Sudan.
Selbst der engste Verbündete Israels, die USA, übt scharfe Kritik an der israelischen Kriegsführung.
Sehen Sie, wir haben manchmal auch Meinungsverschiedenheiten mit einigen unserer besten Freunde. Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass unsere Familien und unsere Kinder sicher sind und dass wir wieder ein normales Leben führen können. Das kann nur geschehen, wenn wir die Bedrohung durch die Hamas beseitigen.
Präsident Biden hat auch gesagt, dass Netanjahu in der aktuellen Situation nicht der richtige Premierminister für Israel ist. Würden Sie dem zustimmen?
Nein. Und ich sage das als jemand, der in den letzten drei Jahren politisch für einen Wechsel der Führung gekämpft hat. Aber in Zeiten des Krieges können wir die Regierung nicht einfach austauschen. Hier geht es um eine existenzielle Bedrohung. Netanjahus Vorgehen wird von der israelischen Öffentlichkeit unterstützt. Wenn wir ihn in den letzten zwei Monaten kritisiert haben, und ich habe ihn kritisiert, dann weil er militärisch nicht hart genug gegen die Hamas vorgeht und noch nicht in Rafah reingegangen ist.
Praktisch die ganze Welt sagt Netanjahu, er solle nicht in Rafah einmarschieren. Die Vereinigten Staaten und selbst Deutschland sagen das.
Wenn wir nicht nach Rafah gehen, würde das bedeuten, dass die Hamas gewinnt und dass meine Kinder in meinem Land niemals sicher sein werden. Ich verstehe den internationalen Druck und die Besorgnis. Aber am Ende ist es für mich wichtiger, mich um das Leben meiner Gemeinschaft und meines Volkes zu kümmern.
Sollte Israel für die Erreichung seiner Kriegsziele bereit sein, die gesamte internationale Unterstützung aufs Spiel zu setzen?
Wenn ich vor der Wahl stehe, entweder die internationale Unterstützung zu verlieren oder mein Leben oder die Ermordung meiner Töchter zu riskieren, entscheide ich mich für den Verlust der internationalen Unterstützung.
Derzeit wird wieder verstärkt über die Zwei-Staaten-Lösung als einzige Perspektive für ein Ende des Nahostkonflikts gesprochen. Können Sie sich in der nahen Zukunft einen palästinensischen Staat vorstellen?
In naher Zukunft? Auf keinen Fall. Alle Anführer der Palästinenser rufen derzeit zur Beseitigung Israels auf und haben das Massaker vom 7. Oktober nicht verurteilt. Ein eigener Staat wäre nur eine Belohnung für die Terroristen. Ausserdem sind wir das Experiment einer Zwei-Staaten-Lösung bereits einmal eingegangen. Im Jahr 2005 räumte Israel den gesamten Gazastreifen vollständig, ohne irgendwelche Bedingungen. Aber anstatt ein zweites Singapur oder Hongkong zu errichten, hat die Hamas den Gazastreifen in einen Terrorstaat verwandelt.
Komplette Reform des Bildungssystems
Welchen Weg zu einem friedlichen Gazastreifen schlagen Sie vor?
Wir müssen der Realität ins Auge sehen. Die Hamas kann und will sich nicht um ihre Gemeinschaft kümmern. Sie kümmert sich nicht um ihr Bildungssystem, die Sozialhilfe, die Gesundheitsversorgung und die Infrastruktur. Die eigentliche Regierung in Gaza ist die internationale Gemeinschaft und die UNRWA.
Sie meinen das UN-Flüchtlingshilfswerk für die Palästinenser, das in Gaza unter anderem das Schul- und Krankenhaussystem betreibt.
Die Hamas hat diese Organisation vollständig übernommen und missbraucht sie durch Diebstahl von Ressourcen und die Nutzung ihrer Einrichtungen als Militärstützpunkte. Ich weiss, dass die internationale Gemeinschaft nicht die Regierung der Palästinenser sein will, aber sie hat bereits einen halben Fuss in der Tür. Sie bezahlt für die gesamte Infrastruktur in Gaza, will politisch aber keine Verantwortung übernehmen. Das muss sich ändern.
Wie?
Die UNRWA muss reformiert und eine echte Rechenschaftspflicht eingeführt werden. Verantwortlich müssen zunächst ausländische Experten sein, die sich wirklich um die Menschen kümmern und die Korruption bekämpfen wollen. Allmählich könnte die Organisation dann in die Hände der Palästinenser überführt werden. Voraussetzung ist aber eine komplette Reform des Bildungssystems. Wenn das gelingt, könnte es in zwei oder drei Generationen vielleicht eine palästinensische Führung geben, die tatsächlich die Kontrolle übernehmen kann.
Über unsere Gesprächspartnerin
- Sharren Haskel (geboren 1984) zog 2015 das erste Mal in die Knesset, das israelische Parlament, ein. Sie war zunächst Mitglied beim Likud, der Partei von Premierminister Benjamin Netanjahu, wechselte aber 2021 zur neuen Partei von Gideon Sa'ar, Tikwa Chadascha. Nach dem 7. Oktober 2023 war sie für einige Monate Teil der Einheitsregierung. Haskel setzt sich in ihrer politischen Karriere insbesondere für die Rechte sexueller Minderheiten sowie die Legalisierung von Cannabis ein. Sie ist Mutter von drei Kindern.
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