Beim EU-Verteidigungsgipfel haben die Mitgliedsstaaten eine massive Aufrüstung beschlossen. Sicherheitsexperte Lucian Bumeder erklärt im Anschluss, warum der Begriff "nuklearer Schutzschirm" irreführend ist, wieso eine deutsche Atombombe keins der aktuellen Probleme lösen würde und in welcher Frage Europa auf Zeit spielt.
Weitreichender ist die Gipfelerklärung zu massiven Investitionen in die Streitkräfte. Damit will die EU den wachsenden Zweifeln gerecht werden, ob Europa noch auf den Schutz der USA zählen kann. Alle 27 Mitgliedstaaten stellten sich grundsätzlich hinter die Initiative der EU-Kommission, nach der bis zu 150 Milliarden Euro an EU-Krediten für Verteidigungsinvestitionen bereitgestellt und Ausnahmen in den EU-Schuldenregeln für Verteidigung ermöglicht werden sollen.
Für Gesprächsstoff sorgte der französische Präsident
Emmanuel Macron hat angeboten, europäische Verbündete mit französischen Atomwaffen zu schützen. Der scheidende Bundeskanzler
Lucian Bumeder: Erweiterte nukleare Abschreckung lässt sich nicht einfach von heute auf morgen durch zwei Politiker etablieren. Dafür bräuchte es nicht nur neue Strategien, sondern mittelfristig vermutlich auch neue Waffensysteme. Zudem ist die nukleare Teilhabe Deutschlands ein zentraler Bestandteil der NATO-Beziehungen. Trotz aller Zweifel an der Verlässlichkeit der USA wird Berlin diese Bindung nicht leichtfertig aufgeben. Das Thema ist erst in den letzten zwei Wochen wirklich relevant geworden. Scholz überlässt die Entscheidung über Veränderungen seinem Nachfolger.
"Schon eine einzige Atombombe kann je nach Ziel katastrophale Zerstörung anrichten."
Reichen die britischen und französischen Atomwaffen als Abschreckung aus? Letzten Schätzungen zufolge haben Frankreich und das Vereinigte Königreich zusammen knapp über 500 nukleare Sprengköpfe, während Russland und die USA jeweils über 5.000 besitzen.
Es geht bei nuklearer Abschreckung nicht nur um Zahlen. Schon eine einzige Atombombe kann je nach Ziel katastrophale Zerstörung anrichten. Entscheidend ist, wie glaubwürdig die Drohung mit einem nuklearen Schlag ist. Die Frage ist: Wäre Frankreich wirklich bereit, das Risiko einer gegenseitigen Vernichtung einzugehen, um beispielsweise ein baltisches Land zu verteidigen?
Und die USA waren hier glaubwürdiger als Frankreich?
Ja, schon. Das US-Atomarsenal ist nicht nur grösser, sondern auch vielfältiger. Die Amerikaner könnten auf einen nuklearen Angriff in Europa reagieren, ohne ihr strategisches Arsenal überhaupt zu berühren. Das erlaubt es ihnen, eine Eskalation eher zu kontrollieren, bevor sie das eigene Land erreicht. Frankreich kann das nur in begrenztem Umfang nachahmen – mit seinen strategischen U-Booten und einem luftgestützten Marschflugkörper. Grossbritannien verfügt nur über U-Boote. Andererseits ist Frankreich geografisch näher an Russland und damit von einem konventionellen Krieg direkter bedroht als die USA. Das könnte für eine grössere Entschlossenheit im Ernstfall sprechen.
Wie könnte "nukleare Zusammenarbeit" in Europa konkret aussehen?
Frankreich wird niemals die alleinige Kontrolle über seine Atomwaffen aufgeben. Die Entscheidung über ihren Einsatz liegt allein beim französischen Präsidenten. Bisher hält sich Macron in seinen Aussagen vage und spricht nur von einer "europäischen Dimension" französischer Interessen.
"Ein Nuklearschlag erfolgt nicht durch ein einzelnes Flugzeug."
Was müsste er konkret sagen?
Wenn Macron wirklich nukleare Garantien für andere EU-Staaten bieten will, müsste er offen klarstellen, dass er bereit ist, diese im Ernstfall auch zu verteidigen. Ausserdem müsste Frankreich seinen Verbündeten – vor allem den osteuropäischen Staaten, die von einem möglichen Nuklearschlag betroffen wären – mehr Einblick in seine nuklearen Planungen geben.
Welche Rolle könnte konkret Deutschland dabei spielen?
Ein Nuklearschlag erfolgt nicht durch ein einzelnes Flugzeug. Er erfordert eine grössere Militäroperation – mit Begleitschutz und der Bekämpfung gegnerischer Luftabwehr. Hier könnten die europäischen Luftwaffen eine Rolle spielen, und das ähnlich wie innerhalb der NATO mit gemeinsamen Übungen symbolisieren. Das gibt auch den oben genannten Einblick in die Nuklearpläne.
Gibt es weitere Ansatzpunkte?
Ein Nuklearprogramm ist extrem teuer. Falls Frankreich sein Arsenal ausbauen will – zum Beispiel durch weitere U-Boote oder neue taktische Atomwaffen –, könnten Deutschland und andere europäische Staaten das finanziell unterstützen. Frankreich lehnt zwar eine direkte Mitfinanzierung seines Atomprogramms ab, doch höhere europäische Verteidigungsausgaben in anderen Bereichen könnten indirekt für Entlastung sorgen.
Braucht Deutschland eventuell eine eigene Atombombe?
Nein, das wäre rechtlich nicht möglich. Der 2+4-Vertrag und der Atomwaffensperrvertrag verbieten Deutschland den Besitz eigener Atomwaffen. Ausserdem würde eine deutsche Atombombe keines der aktuellen Probleme lösen. Ihre Entwicklung würde Jahre dauern und stünde vor denselben Herausforderungen wie eine französische Lösung – vor allem der Frage der Glaubwürdigkeit gegenüber osteuropäischen Staaten. Deshalb führt kein Weg an einer gemeinschaftlichen europäischen Strategie vorbei.
Die USA haben Expertenschätzungen zufolge noch etwa 100 Atombomben in Europa stationiert – einige davon sollen auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagern. Ist zu erwarten, dass die USA diese abziehen?
Das ist eher unwahrscheinlich. Die nukleare Teilhabe ist ein erstaunlich stabiles Konzept, weil sie eng mit der Nichtverbreitung von Atomwaffen verknüpft ist. Selbst in der Türkei, wo es fünf Militärputsche und einen Quasi-Krieg mit Griechenland in Zypern gab, sind die US-Atombomben nie abgezogen worden.
"Es geht hier nicht um Schutz, sondern um die Drohung mit Massenmord."
Falls doch?
Falls es doch zu einem Abzug kommt, dann vermutlich als Teil eines politischen Deals – zum Beispiel einer Vereinbarung zwischen Donald Trump und Wladimir Putin oder als Druckmittel, um Europa zu einer bestimmten Ukraine-Politik zu bewegen. Allerdings hat Russland selbst wenig Interesse an einem vollständigen Abzug, da Europa dann eine ernsthafte atomare Aufrüstung unternähme.
Ist ein nuklearer Schutzschirm denn die einzige Option? Oder gäbe es auch einen anderen gangbaren Weg?
Der Begriff "Schutzschirm" ist eigentlich irreführend. Es geht hier nicht um Schutz, sondern um die Drohung mit Massenmord. Das sollte man auch so benennen. Europa besitzt auch ohne Atomwaffen eine erhebliche konventionelle Militärmacht und könnte sich im Falle eines Angriffs lange verteidigen. Konventionelle Aufrüstung wird parallel geschehen und ist wichtiger.
Warum dann überhaupt europäische Nuklearwaffen?
Das Problem ist, dass Russland nukleare Drohungen gezielt nutzt, um die westliche Allianz zu spalten. Ohne eine eigene glaubwürdige nukleare Abschreckung steigt Europas Anfälligkeit für solche Erpressungsversuche. Zudem hätte der Einsatz einer Atomwaffe gegen ein militärisches Ziel – etwa gegen einen wichtigen Hafen – einen enormen Effekt.
Ist von der Leyens 800-Milliarden-Plan denn aus Ihrer Sicht ausreichend?
Er ist ein wichtiger Schritt, weil die Ausnahme von Verteidigungsausgaben von Stabilitätskriterien eine langfristige Finanzierung für höhere Militärausgaben sichert. Und wenn sie über Schulden finanziert werden, können höhere staatliche Militärausgaben sozial verträglich gestaltet werden. Das Spannungsfeld hat man ja auch im deutschen Wahlkampf gesehen. Ob die Zahl ausreicht, ist unklar. Rüstungsvorhaben sind immer deutlich teurer als geplant. Hier wird viel Geld in der Rüstungsindustrie versickern.
Wieso?
Die europäische Verteidigungsindustrie ist sehr viel zersplitterter und weniger kosteneffizient als die amerikanische oder russische. Und die koordinierende Rolle, die die USA in den militärischen Strukturen der NATO spielen, kann Europa nicht einfach mit Geld ersetzen.
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Ändert der EU-Gipfel etwas an der Lage im Ukraine-Krieg?
Finanziell kann die EU die Lücke füllen, die ein möglicher Rückzug der USA hinterlässt. Auch militärisch ist die Ukraine heute weniger abhängig von amerikanischen Waffen als noch vor einem Jahr. Die entscheidenden Waffensysteme an der Front sind mittlerweile Drohnen und Artillerie – und die kommen zunehmend aus Europa oder werden direkt in der Ukraine produziert. Schwieriger wird es bei Geheimdienstinformationen und Satellitenaufklärung. Hier kann die EU die USA nicht gleichwertig ersetzen.
Wie geschlossen steht die EU derzeit in Sachen Unterstützung der Ukraine?
Die wirtschaftlich und militärisch stärksten EU-Länder sind sich einig und bereit, deutlich mehr Geld in die eigene Verteidigung zu investieren. Das ist ein wichtiges Signal. Wie lange das hält, ist fraglich. Die nächste entscheidende Wahl findet in Frankreich in zwei Jahren statt – und dort könnte sich der Kurs deutlich verschieben. Das ist auch für nukleare Abschreckung ein wichtiger Punkt.
Über den Gesprächspartner
- Lucian Bumeder arbeitet am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Er hat Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen studiert und forscht zu konventioneller und nuklearer Rüstungskontrolle in Europa sowie zu russischer Aussen- und Sicherheitspolitik.