Europa bekomme jetzt von Donald Trump die Quittung dafür, dass es viele Jahre zu wenig in seine Verteidigungsfähigkeit investiert habe, sagt der Militärhistoriker Sönke Neitzel im Interview. Eine ernüchternde Bestandsaufnahme – mit Hoffnungsschimmer.
Donald Trump spricht mit Aggressor Russland über ein mögliches Ende des Ukraine-Kriegs. Donald Trump führt den Präsidenten des angegriffenen Landes wie einen Schuljungen vor und legt die militärische Unterstützung für die Ukraine auf Eis. Und Europa – jenes Europa, das ähnlich viel in die Ukraine investiert hat wie die USA? Es droht aussen vor zu bleiben.
Gibt es noch einen Ausweg aus dieser Situation? Und welche Rolle kommt dabei dem designierten deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz zu? Fragen an den Militärhistoriker Sönke Neitzel.
Sönke Neitzel: Als Historiker fängt man sofort an, in seinem Gedächtnis zu kramen: Gab es das schon mal? Normalerweise ist die Antwort des Historikers stets: 'Alles kalter Kaffee, gab es alles schon.' Aber mir ist kein Fall eingefallen, in dem ein Bündnispartner auf offener Bühne niedergemacht würde.
Will Trump einfach nur den für die USA teuren Ukraine-Krieg stoppen – oder denkt er grösser und wendet sich vom demokratischen Europa ab und dem autokratischen Russland zu?
Entscheidend sind letzten Endes nicht Trumps Worte, sondern seine Taten. Das zu betonen, ist mir wichtig. Wir wissen noch nicht genau, wohin die Reise geht: Stellt er wirklich jede Hilfe für die Ukraine ein? Zieht er wirklich alle Truppen aus Europa ab? Will er gar aus der Nato austreten?
Gibt es denn etwas, das wir schon wissen?
Was wir wissen, ist, dass sich die Grundkoordinaten, auf denen das westliche Bündnis über 75 Jahre basierte, verschieben. Und wir können noch weiter zurück gehen: Woodrow Wilson ist in den Ersten Weltkrieg eingetreten, um der liberalen Demokratie zum Siegeszug zu verhelfen – 'to make the world safe for democracy'. Trump ist es egal, ob in der Ukraine Demokratie herrscht – Hauptsache raus aus diesem Konflikt. Wenn die Europäer einspringen, schön und gut, wenn nicht: auch egal. In seiner Welt zählt offenbar nur die Vormacht der USA gegenüber China.
Grossbritannien und Frankreich wollen jetzt gemeinsam mit der Ukraine einen Friedensplan ausarbeiten und dann die USA dazuholen. Kann Europa es noch vom Katzen- an den Verhandlungstisch schaffen?
Es ist zentral, dass die Europäer sich zusammenraufen. Dass sie gleich am Wochenende diese gemeinsame Position entwickelt haben, war die einzig richtige politische Reaktion auf den Eklat im Weissen Haus. Allerdings glaube ich nicht an die Umsetzung.
Weil sie nur mit Unterstützung der USA funktioniert?
Wenn ich das richtig interpretiere, wollen die Europäer einen Waffenstillstand verhandeln und dann Zehntausende Mann als europäische Friedenstruppe in die Ukraine schicken, um diesen zu sichern. Die Friedenstruppen sollen unter dem Schutz der USA stehen. Das käme einer Aufnahme der Ukraine in die Nato gleich, nicht auf dem Papier, aber de facto. Warum sollte Putin das akzeptieren? Ich sehe auch nicht, dass Trump entsprechende Zusagen macht, auf die sich die Europäer wirklich verlassen können.
"Uns fällt jetzt auf die Füsse, dass wir zehn Jahre lang in einer Pippi-Langstrumpf-Welt gelebt und zu wenig für Aufrüstung und unsere militärische Unabhängigkeit getan haben."
Militärhistoriker Sönke Neitzel
Klingt, als hätte die Ukraine, als hätte Europa schon verloren.
Selbst wenn die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung einstellen, geht in der Ukraine nicht gleich das Licht aus. Im vergangenen Jahr ist Hilfe im Volumen von etwa 45 Milliarden US-Dollar dorthin gelangt, davon kamen etwa 20 Milliarden aus den USA. Das sind Summen, die Europa ersetzen kann.
Aber Europa produziert nicht alle Waffen selbst. Und bei der Aufklärung sind wir überwiegend auf die USA angewiesen.
Ja, klar. Ich frage mich auch, was passiert, falls Elon Musk Starlink abschaltet. Die gesamte ukrainische Führung an der Front basiert auf diesen Satelliten. Uns fällt jetzt auf die Füsse, dass wir zehn Jahre lang in einer Pippi-Langstrumpf-Welt gelebt und zu wenig für Aufrüstung und unsere militärische Unabhängigkeit getan haben. Europa kann die USA gewiss nicht von heute auf morgen militärisch ersetzen, aber wir müssen es so schnell wie möglich versuchen. Zugleich kommen wir vorerst nicht darum herum, weiter um die Unterstützung der Amerikaner zu werben. Das ist hart angesichts des Benehmens von Trump und seiner Administration, aber es führt kein Weg daran vorbei.
Könnte vom Regierungswechsel in Deutschland womöglich ein positiver Impuls ausgehen?
Taktische Atomwaffen in Deutschland
Mit Frankreichs Präsident Macron soll Merz beim ersten Kennenlernen gleich über ein sehr heikles Thema gesprochen haben: Atomwaffen. Befürworten Sie die Idee von einem eigenen europäischen Schutzschirm?
Grossbritannien hat nur strategische Atomwaffen, Frankreich ist das einzige europäische Land mit taktischen. Insgesamt ist das Arsenal bescheiden. Aber ohne ein eigenes nukleares Schutzschild ist Europa erpressbar. Ich bin deshalb froh, dass darüber zumindest diskutiert wird. Und ich sehe nicht, warum Deutschland nicht auch selbst taktische Nuklearwaffen haben sollte. Natürlich ist mir klar, dass es die schwierigste Aufgabe von allen ist, in diesem Punkt von den USA unabhängig zu werden. Das lässt sich nur langfristig lösen.
Das europäische Verteidigungswesen krankt ja vor allem an seiner Ineffizienz. Um die heimische Industrie zu stärken, produziert jedes Land seine eigenen Waffen. Haben Sie Hoffnung, dass sich das ändert?
Europa entwickelt zwei Kampfflugzeuge der sechsten Generation gleichzeitig. Grossbritannien kauft zwar Leopard-Panzer, baut dann aber einen britischen Turm darauf. Und beim CSU-Anspruch auf das Verteidigungsministerium geht es wohl in erheblichem Masse um die bayerische Rüstungsindustrie. Mit diesen nationalen, teils regionalen Egoismen muss Schluss sein. Ich kann nur hoffen, dass all das Negative der letzten Tage bei den Europäern wie ein Tritt in den Hintern wirkt.
Zur Person
- Sönke Neitzel ist Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam.
- Er berät Redaktionen bei historischen Fernsehdokumentationen.
- Neitzel hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Am 20. März erscheint "Die Bundeswehr – Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende" im Verlag C.H.Beck.