Dass Maskierte ohne Erkennungszeichen Menschen entführen, ist in Belarus Alltag. Doch nun fehlt von Maria Kolesnikowa, der letzten bedeutenden Anführerin der Opposition, jede Spur. Was hat der als "Europas letzter Diktator" verschriene Lukaschenko mit ihr vor?

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Mit ihrem herzhaften Lachen und deutlichen Worten gegen Staatschef Alexander Lukaschenko gilt Maria Kolesnikowa in Minsk als das letzte prominente Gesicht der Opposition.

Während andere Oppositionelle auf Druck schon das Land verlassen haben und nun in der EU sind oder in Haft sitzen, fehlt von der 38-Jährigen, die lange in Stuttgart lebte, jede Spur. Sie wurde am Montag offenbar entführt.

Unter Berufung auf Zeugen berichten Kolesnikowas Unterstützer, dass sie im Zentrum von Minsk von schwarz gekleideten Männern gepackt und in einen Kleinbus gestossen worden sei.

"Es herrscht totale Gesetzlosigkeit"

Seit Tagen werden Menschen am helllichten Tag von Maskierten ohne Erkennungszeichen aufgegriffen und verschleppt. "Es herrscht totale Gesetzlosigkeit. Der Machtapparat macht, was er will", sagt der Politologe Waleri Karbelewitsch in Minsk der Deutschen Presse-Agentur.

Der 65-Jährige sieht hier "die übliche Praxis der Angstmache durch die Staatsorgane". Kolesnikowa könnte etwa ins Ausland gebracht werden, wie ihre Mitstreiterinnen Olga Kowalkowa und Swetlana Tichanowskaja, die in der Demokratiebewegung als Siegerin der Präsidentenwahl vom 9. August anerkannt ist. Oder es werde bald bekannt, dass sie in Haft sei, meint Karbelewitsch.

An einen politischen Mord wie 1999 bei Lukaschenkos Gegnern Viktor Gontschar, ehemaliger Wahlleiter, und Juri Sacharenko, erst Innenminister, dann Oppositioneller, glaubt Karbelewitsch nicht. "Maria Kolesnikowa stellt keine so ernste Gefahr dar, dass der Apparat sie physisch beseitigen würde", sagt der Experte.

Von Stuttgart aus managte Kolesnikowa einst Kulturprojekte, bevor sie dauerhaft nach Minsk zurückkehrte, um dem Ex-Bankenchef Viktor Babariko bei der Verwirklichung seiner politischen Pläne zu helfen. Lukaschenko liess auch ihn einsperren. Zur Präsidentenwahl durfte der populäre Babariko nicht antreten.

Lukaschenko zieht die Daumenschrauben an

Kolesnikowa musste sich zuletzt aber immer wieder fragen lassen, warum alle entweder verhaftet oder im Exil sind und nur sie noch frei herumläuft. "Ich tue nichts Unrechtes, halte mich an die Gesetze", sagte sie.

Als Präsidiumsmitglied des von Lukaschenko bekämpften Koordinierungsrates der Zivilgesellschaft für einen friedlichen Machtübergang stellte sie sich auch Ermittlern. Doch sie blieb in Freiheit.

Klar wies sie zudem die verbreiteten Spekulationen zurück, sie sei ein Projekt des Kremls und habe den Schutz Russlands.

Das Verschwinden der Politikerin erklärt sich Karbelewitsch mit einem generellen "Anziehen der Daumenschrauben". Auch bei den grossen Sonntagsdemonstrationen gegen Lukaschenko sei zu sehen, dass der Machtapparat immer rabiater vorgehe.

"Mit jedem Tag werden die Repressionen stärker, langsam, aber konsequent", sagt der Experte. Das sei auch an den vielen Festnahmen zu sehen. Seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl am 9. August demonstrieren die Menschen in Belarus gegen den seit 26 Jahren autoritär regierenden Lukaschenko.

Sie werfen der Regierung massiven Betrug bei der Wahl vor, die Lukaschenko nach offiziellen Angaben mit 80 Prozent der Stimmen gewonnen hatte.

Kolesnikowa: Eine Anführerin auf den Strassen von Belarus

Kolesnikowa formte bei den Protesten immer wieder mit ihren Händen ein Herz und betonte, dass die Menschen sich inzwischen selbst organisierten. Dennoch trat die an der Flöte ausgebildete frühere Musikerin zunehmend als Anführerin hervor.

"Mascha, Mascha", riefen ihr die Menschen in Sprechchören zu. Dem Machtapparat dürfte nicht entgangen sein, wie sehr ihr der Kampf auf der Strasse liegt, wie schlagfertig und selbstbewusst sie auftritt.

Während Tichanowskaja in direkten Gesprächen in ihrem Exil im EU-Land Litauen oft mit den Worten ringt, mobilisiert Kolesnikowa die Menschen und macht aus ihren politischen Ambitionen keinen Hehl.

Erst vor einer Woche gab sie die Gründung der Partei Wmeste (zu Deutsch: Miteinander) bekannt - für den Kampf um die Freiheit. "In den vergangenen drei Monaten haben wir alle miteinander mehr geschafft als in den vergangenen 26 Jahren", sagte sie.

Die Partei Miteinander solle den politisch aufgewachten Menschen eine Heimat geben. Es gehe darum, Verantwortung zu übernehmen für den Aufbau einer neuen Gesellschaft.

Ziel sei es, die politische, soziale und wirtschaftliche Krise im Land zu beenden. Aussichten auf eine offizielle Registrierung der liberalen politischen Kraft gibt es indes kaum. In Belarus ist schon seit 20 Jahren keine neue Partei mehr zugelassen worden.

Opposition will sich von trotz Staatsterror nicht einschüchtern lassen

Vor allem die Staatsmedien dichteten der Opposition zuletzt eine Spaltung und den beiden Frauen - Kolesnikowa und Tichanowskaja - sogar einen Kampf um die Führung an.

Doch bei ihrem ersten Live-Video-Auftritt wies Tichanowskaja das erst am Samstag ausdrücklich zurück. Sie liess Kolesnikowa zuschalten. Beide Frauen betonten, dass die Opposition in Einheit zusammenstehe.

Tichanowskaja machte stets klar, dass sie nur kurz Präsidentin sein wolle, um dann alle Gefangenen freizulassen und Neuwahlen anzusetzen - ohne ihre Teilnahme. Sie würdigte nicht nur am Samstag Kolesnikowas mutigen Kampf auf der Strasse.

Am Montag reagierte sie blitzschnell auf das Verschwinden ihrer Mitstreiterin: "Der Staat befasst sich mit Terror (...) Die Machthaber irren sich, wenn sie denken, dass uns das stoppt."

Je mehr Einschüchterungsversuche es gebe, desto mehr Menschen gingen auf die Strasse. "Wir setzen den Kampf fort." (dpa/afp/thp)

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