Ist die Schweiz in 50 Jahren noch föderalistisch? Die Kompetenzen der Kantone werden laufend beschnitten. Dennoch kann das Schweizer Modell als Vorbild für andere Länder dienen – und vielleicht sogar eine Lösung für die Katalonien-Frage bieten.

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Der Schweizer Föderalismus entspricht nicht mehr der ursprünglichen Idee einer Beschränkung der Zentralgewalt auf auswärtige Beziehungen, Verteidigung und Währung. Das jedenfalls ergibt sich aus den vergleichenden Analysen von Paolo Dardanelli, Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Kent.

Wie die anderen klassischen Bundesstaaten hat sich auch die Schweiz seit ihrer Gründung 1848 tiefgreifend gewandelt.

Heute hat die Schweiz laut dem Experten eine sehr viel stärker zentralisierte Gesetzgebung, als allgemein angenommen. Der Prozess der Zentralisierung und Rechtsharmonisierung führe zu einer "allmählichen Erosion der Autonomie der Kantone", sagt er.

Breite kantonale Steuerautonomie

Es gibt jedoch einen Kompetenzbereich, in dem die Autonomie der Kantone unangetastet bleibt: die Staatskasse.

Die Schweiz hat laut Dardanelli entgegen der Einschätzung einiger Föderalismustheoretiker gezeigt, dass es "möglich ist, starke Steuerkompetenzen der Regionen, also der Kantone, mit einem interkantonalen Finanzausgleich zu verbinden, der immer noch eine grosse Umverteilung der Mittel ermöglicht".

Die Schweiz habe es auf diese Weise geschafft, "aus Sicht der demokratischen Verantwortlichkeit ein gesundes Verhältnis aufrecht zu halten: Die Kantone sind für bestimmte Bereiche zuständig, gleichzeitig aber auch verantwortlich für deren Finanzierung", ergänzt der Experte.

Lösung für die katalanische Frage?

Dieses Schweizer Kombinationsmodell könnte laut Dardanelli auch für andere föderale Staaten ein Vorbild sein.

Seiner Ansicht nach würde die hohe Steuerautonomie des Schweizer Typs jedoch in Ländern mit einem hohen wirtschaftlichen Ungleichgewicht zwischen den Regionen, wie beispielsweise Italien oder Spanien, einige Schwierigkeiten mit sich bringen.

Dennoch glaubt der Spezialist, der als Berater der Verfassungskommission des spanischen Senats tätig war, dass "Spanien sehr nützliche Lehren aus dem schweizerischen Ausgleichssystem und seiner jüngsten Reform ziehen kann".

Seiner Ansicht nach sollte sich Spanien davon inspirieren lassen, um der katalanischen Frage die Stirn zu bieten.

Die komplizierte italienische Notlösung

In Italien gibt es fünf Regionen mit Sonderstatut. Die anderen Regionen können seit der Verfassungsreform von 2001 den Staat um Sonderformen von Autonomie bitten. Einen solchen Antrag stellen möglicherweise bald die Lombardei und Venetien, nachtem die Wähler am 22. Oktober in den entsprechenden Referenden grünes Licht gegeben haben.

Die Emilia Romagna verhandelt bereits mit der Zentralregierung über mehr Autonomie, ohne vorher die Meinung der Bürger eingeholt zu haben.

Ein komplexes System, das die Frage aufwirft, ob es vereinfacht werden sollte. "Natürlich ist ein homogenes System in der Regel vorzuziehen, da asymmetrische Systeme komplizierter zu handhaben sind und interne Spannungen verursachen können. Andererseits ist es jedoch in Ländern mit grossen regionalen Unterschieden sehr schwierig, eine Einigung zu erzielen, die alle zufrieden stellt. In Italien wurde sie bisher noch nicht gefunden", sagt der Forscher.

Das Beispiel der interkantonalen Zusammenarbeit

Ein weiteres Element des schweizerischen Systems könnte laut Dardanelli ein Vorbild für Italien sein: die Zusammenarbeit der Kantone, die in verschiedenen Bereichen (Bildung, Gesundheit, Soziales, Finanzen usw.) mit Konferenzen der kantonalen Direktoren institutionalisiert ist.

"Diese Form der Zusammenarbeit war in der Bundesverfassung nicht vorgesehen, sondern ist im Laufe der Zeit als Antwort auf bestimmte Bedürfnisse entstanden", sagt Dardanelli.

Trotz einiger Kritik – die Entscheidungen der Direktorenkonferenzen unterstehen nicht der Kontrolle durch die direkte Demokratie und in vielen Fällen nicht einmal der kantonalen Parlamente – hat sich das System der horizontalen Koordination zwischen Regionen und Zentralregierung laut dem Experten bewährt.

Kein Klon für die EU

Dass die Schweiz auch für die EU ein Vorbild sein könnte, bezweifelt Dardanelli hingegen: "Ich bin aus einem einfachen, aber wesentlichen Grund skeptisch: Als 1848 die Konföderation zu einem Staatenbund überging, gab es bereits ein Gefühl für die Schweizer Nation."

Bei der EU sei die Situation völlig anders. "In Europa gibt es starke nationale Identitäten und praktisch keine nationale Identifikation mit der EU. Die Idee von Europa ist eine Bruderschaft zwischen verschiedenen Nationen", erklärt Dardanelli. "Mein Fazit ist also, dass die Umwandlung der EU in einen Bundesstaat wie die Schweiz sehr unwahrscheinlich ist."

Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi

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