Am Anfang der Schweizer Demokratie stand einst die Kneipe. Am Stammtisch fielen die Worte, im Sääli die Entscheide. Das Dorf war klein. Es betraf alle, und alle bestimmten mit. Das ist vorbei. Kneipen verschwinden. Lokalzeitungen verstummen. Anonyme Dörfer delegieren ihre Geschicke an Profis. Grund zur Sorge, findet unser Autor.

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Letzten Sommer herrschte grosse Freude: Die Schweizer Demokratie erhielt von Forschenden der Universität Göteborg ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt. Im bisher grössten internationalen Demokratievergleich setzten sie die Schweiz nach Norwegen, Schweden und Estland auf Platz 4.

Im Kleingedruckten gab es allerdings Kritik. Die geringe Teilnahme an der Demokratie in den 2212 Gemeinden stelle deren Funktionieren in Frage.

Dorfkneipen sterben

Beobachter der Schweizer Gemeinde-Landschaft sind nicht überrascht. 2017 mussten die Wirtshausbetreiber im Land ein "Rekord-Beizensterben" vermelden. Jedes Jahr machen in der Schweiz an die Tausend Kneipen dicht.

Das hat Folgen für das gesellschaftliche und politische Leben, denn mit jeder Kneipe, die auf dem Land schliessen muss, verschwindet ein Ort der traditionellen Geselligkeit. Mit ihm verschwindet aber auch politische Öffentlichkeit, in der die Einwohner Dampf ablassen können, wenn sie mit ihrer Gemeindeexekutive nicht einverstanden sind.

Schlafgemeinden boomen

Doch kümmert es die Gemeindebewohner überhaupt noch, was in ihrem Ort geschieht? Immer weniger. Die Bindung der Bürger an ihren Wohnort nimmt ab. 2018 vermeldete das Identitätsbarometer der schweizerischen Grossbank Credit Suisse bereits zum sechsten Mal in Folge eine Abnahme der Identifikation der Menschen mit ihrer Wohngemeinde. Hatte sich 2012 noch die Hälfte der Befragten mit ihrem Wohnort verbunden gefühlt, waren es 2017 nur noch ein Viertel.

Das zeigt sich insbesondere in Agglomerationsgemeinden. Tagsüber arbeiten die Menschen in der pulsierenden Stadt, wo sie nicht mitbestimmen dürfen. Am Abend gönnen sie sich Entspannung. Das Ruhebedürfnis ist wichtiger als der Besuch von Vereinsanlässen, die Parteiarbeit oder Gemeindepolitik in Schlafgemeinden.

Bürger verstummen

Das hat Konsequenzen. Wer mit seinem Wohnort nicht mehr mitschwingt, ist irgendwann zu stumpf, um mitbestimmen zu wollen. Die Gemeindeversammlungen bleiben leer. Jedes Jahr finden in der Schweiz rund 4000 Gemeindeversammlungen statt, an denen noch rund 300'000 Bürgerinnen und Bürger teilnehmen. Dies geht aus dem Gemeindemonitoring hervor, das Forschende der Universität Lausanne und der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften regelmässig erheben.

Die Regel, die sich aus den Beteiligungswerten ablesen lässt: Je mehr Einwohner eine Gemeinde hat, desto geringer der Anteil der Bürger, die an den Versammlungen teilnehmen.

Auffällig hoch ist dabei der rasante Rückgang der Beteiligung in Gemeinden mit 250 bis 1000 Einwohnern. Am düstersten sieht es in Städten aus: Dort machen nur zwei bis drei Prozent der Wohnbevölkerung mit.

Andreas Ladner, Doyen der Schweizer Gemeindeforscher, konstatiert ein offensichtliches Problem, und "ein Patentrezept gibt es nicht", sagt der Professor von der Universität Lausanne.

Wer fusionierte, verlor Beteiligung

Für 1999 wies das Historische Lexikon der Schweiz erstmals weniger als 3000 Gemeinden aus. 2019 sind es noch deren 2212. Innert 20 Jahren hat also ein Viertel aller Schweizer Gemeinden ihre Selbstständigkeit eingebüsst – das "Gemeindesterben" ist in der Schweiz eine Realität, verursacht zumeist durch Fusionen.

Gründe für das Gemeindesterben gibt es viele. Mancherorts fehlte es an freiwilligem Personal für die Milizämter, andernorts gerieten die Gemeindefinanzen mangels kompetenter Planung aus dem Lot.

Gestärkt wurden in der Folge Verwaltungen mit professionalisierten Dienstleistungen. Doch das hat seinen politischen Preis. In Fusionsgemeinden geht die politische Beteiligung weiter zurück, wie Studien zeigen.

Lokalparlamente sind keine Lösung

Grössere Gemeinden setzen auf Gemeindeparlamente. Sie haben sich vor allem in der französischsprachigen Westschweiz und im italienischsprachigen Tessin etabliert. 2017 gab es 475 Gemeinde- oder Stadtparlamente mit total 17'339 gewählten Mitgliedern.

Und auch hier zeigen sich Probleme: Die Fluktuation der gewählten Volkvertreterinnen und -vertreter ist sehr hoch. In den Gemeindeparlamenten in der deutschsprachigen Schweiz gibt es in einer Legislatur im Schnitt für jeden Zugang einen Abgang.

Es gibt aber Alternativen.

Namentlich im Kanton Luzern beschritten kleinere Gemeinden einen neuen Weg: Sie lassen ihre Bürger über alles abstimmen. Wenn selbst über kleinste Geschäfte abgestimmt wird, bringt das im Luzernischen fünf- bis sechsmal mehr Menschen an die Urne, als zuvor an den Gemeindeversammlungen teilgenommen hatten.

Junge und Frauen untervertreten

Zahlreiche Politologen kritisieren im Übrigen die Zusammensetzung der Gemeindeversammlungen als einseitig. In 86% der Versammlungen sind beispielsweise junge Einwohner untervertreten. In 32% sind Senioren übervertreten, berichtete 2016 der Wissenschaftsblog DeFacto.

Auch Frauen und Neuzugezogene finden weniger Anschluss. Gut eingerichtet hat sich dagegen das lokale Gewerbe – es ist an Gemeindeversammlungen weit übervertreten.

Noch stimmt die Qualität

Der Politikwissenschaftler Philipp Rochat, der am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) eine Doktorarbeit über die Gemeindeversammlungen im Kanton Aargau verfasst hat, verteidigt allerdings die tiefen Beteiligungsquoten. Die Entscheidungen der legitimen Gemeindeversammlungen würden von breiten Teilen der Stimmberechtigten akzeptiert, und eine tiefe Beteiligung bedeute nicht automatisch eine tiefe Demokratiequalität, so sein Befund.

Zeitungssterben verschärft alles

Daniel Kübler, Co-Direktor des Zentrums für Demokratie in Aarau (ZDA), sieht noch grösseres Ungemach auf die Gemeindepolitik zukommen. Er hat in einer Studie den Zusammenhang zwischen Lokalpresse und politischer Beteiligung vor Ort nachgewiesen."Je höher die Auflage der lokalen Zeitungen und je mehr die Medien über lokale Politik berichten, desto höher ist die Wahlbeteiligung", sagt Kübler.

Angesichts der aktuellen Entwicklungen bedeutet dies im Umkehrschluss: Je mehr lokale Medien verschwinden und je weniger Medien über lokale Politik berichten, desto tiefer ist die Wahlbeteiligung in den Gemeinden.

Öffentlichkeit ist Kontrolle

Es besteht also Grund zur Beunruhigung. Denn fehlen lokale Medien, fehlt Öffentlichkeit. Und eine lokale Politik ohne Öffentlichkeit - also ohne Kontrolle - öffnet Akteuren die Türe, um eigene Interessen durchzusetzen.

Was also bleibt zu tun?

Zumindest für die Problematik um die Lokalmedien gibt es einen Lösungsansatz. Otfried Jarren, Präsident der Eidgenössischen Medienkommission, plädiert für Informationsangebote und Diskussionsplattformen im Internet. Diese sollen durch Stiftungen und Gemeinden finanziert werden.

Rasante Veränderung

Eine funktionierende Demokratie braucht politische Beteiligung, und Versammlungsdemokratie baut auf Ortsverbundenheit auf. Die Erosion dieser Bindung hat innerhalb von nur einer Generation die Schweiz verändert.

Für die Gemeindeversammlung - Urzelle der direkten Demokratie - sind derzeit zahlreiche Probleme in Sicht. Lösungen weniger.


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