• Seit etwas über einem Jahr gilt in Polen ein strenges Abtreibungsgesetz. Zuletzt hat der Tod einer Schwangeren den Protesten neuen Anschub gegeben.
  • Mehrere Menschenrechtsorganisationen kritisieren das Gesetz. Katholische Fundamentalisten fordern dagegen noch strengere Regelungen.
  • Wie ist die Lage in Polen, was besagt das Gesetz und wie sind die Auswirkungen für Frauen?

Mehr aktuelle News finden Sie hier

Seit gut einem Jahr gilt in Polen ein strenges Abtreibungsgesetz. Kritiker sprechen gar von einem Abtreibungsverbot. Aufgrund des Todes einer Schwangeren hatten die Diskussionen um das Gesetz zuletzt wieder an Fahrt aufgenommen. Die Familie erhebt schwere Vorwürfe gegen die behandelnden Ärzte und die Staatsanwaltschaft ermittelt. Die Ärzte hätten es, so die Anklage der Familie, aufgrund des strengen Abtreibungsgesetzes nicht gewagt, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen und so das Leben der Frau zu retten.

Die Schwester der Verstorbenen äusserte sich auf Facebook. Die Frau sei mit Zwillingen schwanger gewesen. Kurz vor Weihnachten habe man das Absterben eines Zwillings im Mutterleib festgestellt. Der Fötus war aber nicht entfernt worden, woraufhin kurz darauf der zweite Zwilling ebenfalls starb. Die Frau verstarb Ende Januar an einer darauffolgenden Sepsis. Die Schwester der Verstorbenen schreibt weiter: "Wir fordern Gerechtigkeit und Entschädigung für den Tod unserer verstorbenen Frau, Mutter, Schwester und Freundin."

Ausserdem ist die Rede von der Bereitstellung falscher Informationen durch das Krankenhauspersonal. "Wir sind am Boden zerstört und der Schmerz, der uns begleitet, ist unbeschreiblich. Bitte helft uns", lautet die Forderung am Ende des Statements.

"Die Ärzte haben den Tod des Fötus abgewartet"

Das Krankenhaus hatte sich dagegen in einer offiziellen Erklärung verteidigt: "Nach dem Tod des ersten Kindes am 23. Dezember wurde eine abwartende Haltung eingenommen, um eine Chance zu haben, das zweite Kind zu retten." Das sei leider nicht gelungen. Schon Ende 2021 hatte ein ähnlicher Fall in Polen für Aufsehen gesorgt. Auch dort war eine Frau an einer Sepsis verstorben, nachdem die Ärzte gewartet hatten, bis ein geschädigter Fötus im Mutterleib abstarb.

Kritiker des Gesetzes warnen schon lange, dass Ärzte aufgrund des verschärften Gesetzes aus Angst vor einer Strafverfolgung zögerten, einen Schwangerschaftsabbruch einzuleiten. Selbst dann, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist.

Die Anwältin Jolanta Budzowska, die die Ende des Jahres 2021 verstorbene Frau vertritt, warf den Ärzten in einem offiziellen Statement vor, zu lange gezögert zu haben: "Während des Krankenhausaufenthalts starb der Fötus. Die Patientin starb auch nach weniger als 24 Stunden Krankenhausaufenthalt. Die Todesursache war ein septischer Schock." Anhänger des Gesetzes erklären dagegen, es sei nicht bewiesen, dass das Gesetz ursächlich zum Tod der Frauen geführt habe.

Noch strengeres Abtreibungsgesetz in Polen: Was ist neu?

Nachdem die PiS-Regierung (PiS steht für "Recht und Gerechtigkeit" und ist die Regierungspartei in Polen; Anm. d. Red.) ein umstrittenes Verfassungsurteil veröffentlicht hatte, trat im Januar 2021 das neue Abtreibungsgesetz in Kraft. Dadurch sind die Bedingungen für eine Abtreibung extrem verschärft worden.

Vor Verabschiedung des Gesetzes durften Frauen in Polen nur in drei Fällen überhaupt abtreiben: Wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr war, wenn die Schwangerschaft auf ein Verbrechen wie eine Vergewaltigung zurückging, oder wenn der Fötus schwere und dauerhafte Fehlbildungen aufwies. Diese letztgenannte Bedingung wurde durch das neue Gesetz gestrichen. Ärzten drohen bei Missachtung Gefängnisstrafen von bis zu drei Jahren.

Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts am 22. Oktober 2020 hatten sich umgehend grosse Proteste formiert. Der Initiatorin Marta Lempart war es gelungen, eine halbe Million Menschen in verschiedenen polnischen Städten zu mobilisieren. Die Proteste gegen das Verfassungsgerichtsurteil waren damit die grössten seit der Unabhängigkeit von 1989. Lempart wird seither im öffentlichen Fernsehen als Staatsfeindin dargestellt.

Initiatorin der Proteste: "Massiver Gegenwind zeigt, dass ich etwas richtig mache"

In einem Interview mit der Zeit hatte sie kommentiert: "Der massive Gegenwind zeigt, dass ich etwas richtig mache. Ich bin quasi Titelthema in allen Regierungsmedien." Die Menschen seien wütend, weil die Regierung sich in der Corona-Krise "wo Gesundheitsversorgung, Schulsystem und Wirtschaft zusammenbrechen und Priorität sein sollten, auf Schwangerschaftsabbrüche und Frauenrechte einschiesst", erklärte Lempart.

Der polnischen Regierung ist die Sprengkraft des Gesetzes wohl bewusst gewesen, hatte sie doch nach dem Urteil am 22.10.2020 über drei Monate gezögert, dass Urteil auch zu veröffentlichen und die neue Gesetzeslage zu beschliessen. Das Verfassungsgericht hatte sich in dem Urteil auf Artikel 38 der Verfassung bezogen, in dem es heisst: "Die Republik Polen gewährleistet jedem Menschen rechtlichen Schutz des Lebens."

Verschärfung des Abtreibungsgesetzes: Wer steckt hinter der Initiative?

Doch wer hat die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes eigentlich initiiert? Der Leiter des Warschauer Büros des Thinktanks "European Council on Foreign Relations", Piotr Buras, erklärt in einem Interview mit der Welt, dass die Stiftung "Leben und Familie" die Anfrage an den Gerichtshof gestellt hatte und vorher wusste, dass dieser für eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes plädieren würde.

Mit der Stiftung seien viele prominente PiS-Politiker assoziiert. "Und der Verfassungsgerichtshof ist mit der Regierung verbandelt", so der Politikwissenschaftler. "Das trägt dazu bei, dass seine Urteile auf derart massive Kritik stossen – vor allem in so brisanten Fragen wie dem Abtreibungsrecht", so Buras.

Eine der führenden Proteststimmen in der Bewegung ist die Schriftstellerin Klementyna Suchanow. Diese hatte nach der Verabschiedung des Gesetzes auf einer öffentlichen Kundgebung klargestellt: "Schon am 22. Oktober war diese Entscheidung zynisch und jetzt, nach so vielen Protesttagen und -nächten, ist sie kaum noch in Worte zu fassen. Wir sprachen von einer Hölle für die Frauen, aber ab jetzt werden wir von einer Hölle für die Regierung sprechen. Wir werden euch die Hölle heiss machen", kündigte sie an.

Menschenrechtsorganisationen: Verheerende Auswirkungen auf das Leben von Frauen

Seit das Abtreibungsgesetz in Kraft ist, kommt es wie angekündigt immer wieder zu Protesten. Menschenrechtsorganisationen, unter anderem Amnesty International und Human Rights Watch sprechen von "verheerenden Auswirkungen auf das Leben von Frauen." Demnach hätten sich mehr als 1000 polnische Frauen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt, um das Gesetz anzufechten.

Auch schon vor der Verschärfung hatte es in Polen laut AfP weniger als 2000 legal vorgenommene Schwangerschaftsabbrüche gegeben. Pro Jahr sollen aber, so schätzen Frauenrechtsorganisationen, über 200.000 polnische Frauen eine Abtreibung illegal im Ausland durchführen. In der mehrheitlich katholischen Gesellschaft verlangen die radikal-christlichen Organisationen nun sogar noch strengere Regelungen.

Katholische Fundamentalisten: Abtreibung ist Mord

Katholische Fundamentalisten fordern, dass Abtreibung künftig als Mord gelten solle und betreiben grosse Kampagnen, um ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen. Ein erster Entwurf war vom Parlament noch abgelehnt worden. In diesem waren Haftstrafen von bis zu lebenslänglich für eine Abtreibung vorgesehen gewesen.

Die Initiative wird vor allem von katholischen Fundamentalisten des Ordo-Iuris-Instituts vorangetrieben. Durch die Initiative sollen die beiden noch gültigen Gründe für eine Abtreibung, die Gefährdung des Lebens der Schwangeren, sowie eine Schwangerschaft, die aus einem Verbrechen wie einer Vergewaltigung hervorging, aufgehoben werden.

Hintergrundbericht: "Ordo Iuris ist eine extremistische religiöse Organisation"

Das Ordo Iuris Netzwerk hat in Polen grossen Einfluss. Der Gründer der ultra-konservativ-christlichen Organisation, Aleksander Stepkowski, ist Richter und Sprecher des polnischen Obersten Gerichtshofs und war von Polen sogar für das Richteramt am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgeschlagen worden.

Das ist umso bemerkenswerter, als dass die European Humanist Federation Ordo Iuris als "eine sehr konservative Anti-Choice-Vereinigung" beschreibt, die die "Abtreibung in allen Fällen, gleichgeschlechtliche Ehen und Lebenspartnerschaften sowie Sexualerziehung ablehnt."

Sie versuche durch juristische Expertise die europäische Gesetzgebung zu beeinflussen. Das Europäische Parlamentarische Forum für sexuelle und reproduktive Rechte schreibt ausserdem in einem Hintergrundbericht zu Ordo Iuris: "Ordo Iuris ist eine extremistische religiöse Organisation, deren Führer ein Netz reaktionärer Organisationen in Polen und darüber hinaus geschaffen haben." Darüber hinaus habe die Organisation bereits das Innenleben des polnischen Staates infiltriert.

Polnische Regierung unter Druck: Bevölkerung mehrheitlich gegen Gesetz

Dennoch dürfte es nicht einfach werden, eine weitere Verschärfung des Abtreibungsgesetzes umzusetzen. Denn die Regierung weiss, dass die bisherige Gesetzesverschärfung schon eine Gratwanderung war. Einerseits will die Regierung die erzkatholische Wählerschaft nicht verprellen und die radikal-katholischen Organisationen auf ihrer Seite halten.

Andererseits weiss sie auch um die Stimmung in der polnischen Gesellschaft. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts United Surveys (notesfrompland.com) hatte im vergangenen November klar aufgezeigt, dass die PiS die Bevölkerung für das Abtreibungsgesetz nicht auf ihrer Seite hat. 73,9 Prozent der Befragten sprachen sich für eine Lockerung des Gesetzes aus, wobei 42,8 Prozent eine Rückkehr zum sogenannten "Abtreibungskompromiss" befürworteten. Das würde die Gesetzeslage von vor dem Urteil des Verfassungsgerichts bedeuten.

PiS-Partei unter Druck: Im Jahr 2023 stehen Wahlen an

31,1 Prozent wollen dagegen eine deutlichere Liberalisierung. Abtreibungen sollten bis zum Ende des dritten Monats generell möglich sein. Eine Bestrafung der jeweils abtreibenden Schwangeren lehnt ausserdem die überwiegende Mehrheit ab: Nur acht Prozent der Befragten waren dafür. Vor diesem Hintergrund muss die Regierung in den kommenden Monaten genau abwägen, welche Schritte sie noch gehen will. Denn im Jahr 2023 wird ein neues Parlament gewählt.

Das Abtreibungsgesetz wird die Politik jedenfalls noch einige Zeit beschäftigen. Zuletzt hatte das Europäische Parlament das Abtreibungsgesetz in einer Pressemitteilung verurteilt und gefordert, dass es keine weiteren Opfer fordern dürfe. Die Abgeordneten fordern die polnische Regierung auf, "den Zugang zu sicheren, legalen und kostenlosen Abtreibungsdiensten für alle Frauen schnell und umfassend zu gewährleisten."

Verwendete Quellen:

  • epfweb.org: Foundation Ordo Iuris Institute for Legal Culture
  • europarl.europa.eu: Polen: Restriktives Abtreibungsgesetz darf keine weiteren Opfer fordern
  • facebook.com: Apel Rodziny (Statement der Schwester der Verstorbenen Agnieszka T.)
  • humanistfederation.eu: Ordo Iuris
  • instagram.com: Komunikat Rodziny Zmarley Pacjentki (Statement der Anwältin Jolanta Budzowska)
  • notesfrompoland.com: Three quarters of Poles want abortion law softened amid protests over pregnant woman’s death
  • sejm.gov.pl: Verfassung der Republik Polen
  • szpitalparkitka.com.pl: Oświadczenie Dyrekcji Szpitala (Erklärung des Krankenhauses zum Tod von Agnieszka T.)
  • welt.de: "Die PiS hat die Büchse der Pandora geöffnet"
  • zeit.de: "Wir sind im Krieg mit der Regierung“
Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "Einblick" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen.
Schwangerschaft

Meisten Frauen bereuen Abtreibung nicht

Eine amerikanische Studie zeigt, dass fünf Jahre nach einem Schwangerschaftsabbruch ein überwiegender Teil der Frauen ihre Entscheidung für richtig hält.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.