In keinem anderen Land Europas sind Juden im vergangenen Jahr so oft antisemitisch belästigt worden wie in Deutschland. Das ist das alarmierende Ergebnis einer aktuellen Studie. Sie zeigt ausserdem: Deutschland ist in der EU damit nicht allein. Und: Quasi alle Erhebungen zur Judenfeindlichkeit haben Tücken.
Die "Bild" spricht von einer "Studie der Schande." Michael O’Flaherty, der Direktor der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), die die "Erhebung über Diskriminierung und Hassverbrechen gegen Menschen jüdischen Glaubens in der EU" durchgeführt hat, nennt das Ergebnis "erschütternd".
Befragt wurden über 16.000 Juden in Deutschland, Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Ungarn, Italien, Polen, Spanien, Schweden, Grossbritannien und den Niederlanden. In diesen zwölf Ländern leben 96 Prozent aller Juden in der EU.
Die fünf wichtigsten Erkenntnisse
- 89 Prozent der Teilnehmer geben an, dass der Antisemitismus in ihrer Heimat in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat.
- 41 Prozent der befragten Deutschen wurden nach eigener Aussage im vergangenen Jahr antisemitisch belästigt. Das sind so viele wie in keinem anderen der zwölf Länder. Der Schnitt liegt bei 28 Prozent.
- Die Situation hindert die Menschen daran, ihren Glauben offen zu leben: Dreiviertel der deutschen Studienteilnehmer verzichten zumindest manchmal darauf, in der Öffentlichkeit jüdischer Symbole zu tragen. Fast die Hälfte meidet ausserdem gewisse Gegenden. 44 Prozent haben schon ans Auswandern gedacht.
- Über 40 Prozent derer, die diskriminiert wurden, gaben an, dass die Täter einen muslimischen Hintergrund hatten.
- 77 Prozent derjenige, die Diskriminierung erlebt haben, habe diese weder bei den Sicherheitsbehörden angezeigt noch sie einer Nichtregierungsorganisation gemeldet.
Teilweiser Widerspruch zur Kriminalstatistik
Die Aussage, dass der Antisemitismus zuletzt zugenommen hat, deckt sich mit der Statistik "Politische Motivierte Kriminalität" des Innenministeriums, einem Sonderbericht zur polizeilichen Kriminalstatistik. 2017 zählten die Behörden 1.504 antisemitisch motivierten Straftaten, ein Plus von 2,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Ob die Juden verbal beleidigt, verletzt oder gar getötet wurden geht aus den Zahlen nicht hervor. Die Art der antisemitischen Straftat wird nicht gesondert erfasst. Klar ist aber: Durchschnittlich vier mal am Tag kommt es in Deutschland zu einer judenfeindlichen Straftat - mindestens.
Mindestens, weil die Dunkelziffer weit darüber liegen dürfte, wie auch die Aussage der Studie bestätigen. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus hat 2017 allein in Berlin 947 entsprechende Vorfälle erfasst, darunter rund 680 Fälle von "verletzendem Verhalten", aber auch tätliche Angriffe (18) und Sachbeschädigungen (42).
Diametral entgegen stehen sich die Studie und die Kriminalstatistik beim Blick auf die Täter. Während die Befragten die Diskriminierung am häufigsten Menschen mit muslimischem Hintergrund zuschreiben, ordnet die Polizei 94 Prozent der Täter dem rechten Spektrum zu. Auch wenn sich das Eine und das Andere nicht zwangsläufig ausschliessen ist klar: das passt nicht zusammen.
Wirklich belastbare Zahlen fehlen
Kritik an den Zahlen des Innenministeriums gibt es immer wieder: Laut "Tagesschau" kritisiert der Bund Deutscher Kriminalbeamter, dass die Kriminalstatistik "lediglich eine Strichliste, ein Arbeitsnachweis ohne inhaltliche Bewertung des zeitlichen und ermittlungstaktischen Aufwands" ist.
Der vom Bundestag eingesetzte "Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus" geht von "einer systematischen Unterschätzung antisemitischer Vorfälle" in der Statistik "Politisch Motivierte Kriminalität" aus.
Gleichzeitig hat auch die Aussagekraft der Studie Grenzen: Womöglich wurden fremdländisch aussehende Täter fälschlicherweise für Muslime gehalten.
Und jetzt?
Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte der "Bild", Deutschland müsse alles daran setzen, die "traurige Spitzenreiterposition", die es in der Studie einnimmt, wieder loszuwerden. Nur wie? Die Verfasser haben für die Politik zumindest einige Vorschläge:
- Aufklärung über den Holocaust intensivieren
- Detailliertere Erfassung der Straftaten
- Abschreckende Strafen für die Täter, um Opfer und Zeugen zu ermutigen, Vorfälle zu melden
"Die Mitgliedstaaten müssen diese Entwicklung zur Kenntnis nehmen und sich intensiver bemühen, der Judenfeindlichkeit vorzubeugen und sie zu bekämpfen", sagt Michael O’Flaherty. "Juden haben das Recht, frei, ohne Hass und ohne Angst um ihre Sicherheit zu leben."
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