Seit der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan syrische Flüchtlinge nach Europa schicken will, ist der Ärger in den EU-Staaten gross. In der Türkei leben inzwischen 3,7 Millionen Syrer – und die Gastfreundschaft der Bevölkerung ist deutlich gesunken.
Nach einer weiteren Nacht mit Brandflaschen und Tränengas herrschte am Freitagmorgen wieder Ruhe am griechisch-türkischen Grenzübergang bei Kastanies/Pazarkule.
Am Vorabend hatten abermals zahlreiche Menschen von der türkischen Seite aus versucht, einen Grenzzaun auf der griechischen Seite zu durchbrechen, um illegal nach Griechenland und damit in die EU zu kommen.
Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vor zwei Wochen erklärte, Menschen nicht mehr an der Flucht in die Europäische Union zu hindern, strömten Tausende an die EU-Aussengrenze. Die meisten harren dort weiter aus, für Erdogan sind sie ein willkommenes Druckmittel.
Aus europäischer und deutscher Perspektive scheint Ankara der Sündenbock in der aktuellen Flüchtlingskrise. Ein genauer Blick zeigt aber, dass die Schuldzuweisung weniger eindeutig ist.
Erdogan – der "Flüchtlingspräsident"
Seit 2014 ist die Türkei das Land, in dem weltweit die meisten Geflüchteten leben. M. Murat Erdogan, Professor an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul, spricht von mindestens 4,1 Millionen Menschen. Die mit 3,7 Millionen Menschen deutlich grösste Gruppe davon bilden geflüchtete Syrer.
Als 2011 der Bürgerkrieg in ihrem Heimatland ausgebrochen war und die ersten Menschen in die Türkei kamen, hatte der Präsident noch von "muslimischen Brüdern und Schwestern" gesprochen. Nun aber hat seine Regierung die Grenzen zur Europäischen Union für Geflüchtete geöffnet und ihnen nahegelegt, nach Europa zu gehen. Seitdem ist die Aufregung in Berlin, Brüssel und anderen Hauptstädten gross: Der Präsident mache die Menschen zum Spielball, sogar zu Geiseln im Konflikt mit der EU.
Wie aber schauen die Türken auf das Thema? Wie geht es den Syrern im Land und wie beeinflussen sie Wirtschaft und Gesellschaft?
90 Prozent arbeiten im informellen Sektor
Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Die Lage sei kompliziert, sagt Politikwissenschaftler M. Murat Erdogan im Gespräch mit unserer Redaktion: "2011 hatten wir in der Türkei insgesamt 58.000 Geflüchtete. Jetzt reden wir über mehr als vier Millionen Menschen. Das ist schwierig. Für die Regierung, aber auch für die Gesellschaft."
Die Lebensbedingungen sind sehr unterschiedlich. Ein Teil der Syrer lebt in staatlich finanzierten Flüchtlingscamps. Die Mehrheit aber schlägt sich auf eigene Faust in den grossen Städten durch. Etwa 90 Prozent arbeiten M. Murat Erdogan zufolge im informellen Sektor – sie betreiben also zum Beispiel Handel oder übernehmen einfache Dienstleistungen, arbeiten ohne feste Verträge und ohne Steuern abzuführen. Für eine Volkswirtschaft kann ein grosser informeller Sektor Probleme mit sich bringen – in diesem Fall hilft er vielen Syrern aber offenbar, eigenes Geld zu verdienen. "Wenn wir keinen informellen Sektor gehabt hätten, hätte das für grosse Probleme gesorgt – auch für Europa", sagt M. Murat Erdogan.
Die Behörden bemühen sich seiner Aussage nach auch, syrische Kinder in die Schulen zu bringen. "Aber das ist nicht immer einfach." Mehr als 60 Prozent der Fünf- bis 17-Jährigen haben dem Migrationsexperten zufolge Zugang zur Bildung. In Teilen der syrischen Community gebe es zum Beispiel Vorbehalte, ältere Mädchen auf eine Schule zu schicken.
Was der Flüchtlingsdeal bedeutete
Die Situation der Syrer in der Türkei ist auch für Europa von grosser Bedeutung. Denn indem die Menschen dort aufgehalten werden, hoffen die Europäer, dass ihre eigenen Flüchtlingszahlen – die deutlich niedriger sind – nicht weiter steigen.
Im März 2016 hatten die Europäische Union und die Türkei deshalb ihr Flüchtlingsabkommen geschlossen. Die Türkei verpflichtete sich, zu verhindern, dass Menschen von ihrem Territorium aus in den EU-Staat Griechenland gelangen. Diejenigen, die es trotzdem schaffen und keinen Anspruch auf Asyl haben, sollten auf EU-Kosten zurück in die Türkei gebracht werden. Im Gegenzug sagte die EU zu, für jeden Syrer, der in die Türkei zurückgebracht wird, einen anderen syrischen Geflüchteten aus der Türkei aufzunehmen. Das Land sollte zudem sechs Milliarden Euro aus Brüssel für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Syrer erhalten.
Syrer bekommen Geldkarten
Inzwischen werfen sich beide Seiten vor, das Abkommen gebrochen zu haben – und haben damit teilweise recht. Die türkische Regierung hält die Geflüchteten an den eigenen Grenzen nicht mehr auf ihrem Weg in die EU auf. Als unberechtigt gilt wiederum der türkische Vorwurf, die Europäer hätten das vereinbarte Geld nicht bezahlt. Die sechs Milliarden Euro seien "vollständig verplant", sagte der Migrationsexperte Gerald Knaus, der als Architekt des Abkommens gilt, in der ARD.
Die EU finanziert damit unter anderem Geldkarten, die ein Teil der Syrer in der Türkei benutzen kann. Das bedeutet aber nicht, dass sie damit unbegrenzt Geld abheben können. 1,7 Millionen Menschen haben ein Anrecht darauf. M. Murat Erdogan sagt, dass es sich um Menschen in besonders schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen handele. Die Beträge sind zudem begrenzt: "Sie bekommen seit zwei Jahren pro Person und pro Monat 120 türkische Lira – umgerechnet sind das weniger als 20 Euro."
"99,5 Prozent bleiben in der Türkei"
Der Österreicher Knaus findet, dass sich die Türkei trotzdem zu Recht Sorgen macht. Denn die EU sei ihrem Versprechen nicht nachgekommen, Flüchtlinge aus der Türkei zu übernehmen. Knaus' Thinktank "European Stability Initiative" zufolge sind zwischen April 2016 und September 2019 nur 24.492 Menschen in die EU übersiedelt worden. 99,5 Prozent der Syrer seien im vergangenen Jahr in der Türkei geblieben, sagte Knaus in der ARD.
Die Zahl der Geflüchteten steigt dort also – auch weil inzwischen mehr als 450.000 Kinder aus syrischen Familien in der Türkei geboren wurden. Diese seien "gefangen zwischen den Welten", schreibt die Konrad-Adenauer-Stiftung in einem aktuellen Länderbericht: weil sie häufig weder die türkische noch die syrische Staatsangehörigkeit zugestanden bekommen.
Zustimmung sinkt
"Am Anfang gab es sehr viel Unterstützung für Syrer und andere Geflüchtete – aber man hat damals an eine vorübergehende Sache gedacht", erklärt M. Murat Erdogan. "Jetzt sehen die Bürger ganz eindeutig: Sie werden dauerhaft in der Türkei bleiben. Das macht vielen Menschen Sorge." Inzwischen geben zwei Drittel der Bevölkerung in Umfragen an, sie seien unzufrieden mit der Anwesenheit der Flüchtlinge.
Gerald Knaus glaubt, dass der aktuelle Kurs der türkischen Regierung der "Beginn eines neuen Pokers" ist: "In den nächsten Wochen müssen die Gespräche beginnen, wie die EU die Türkei weiter unterstützt." Dass das passiert, ist seiner Meinung nach im Interesse aller: im Interesse der Europäer – besonders der Griechen – und der Türkei. Und auch im Interesse der dortigen Syrer.
Verwendete Quellen:
- Prof. Dr. M. Murat Erdogan, Türkisch-Deutsche Universität Istanbul
- European Stability Initiative: Refugee crisis in the Aegean
- Konrad-Adenauer-Stiftung: Länderbericht Länderbüro Türkei Februar 2020 – Syrer, quo vadis? Zur Zukunft der syrischen Flüchtlinge in der Türkei
- tagesschau.de: Gerald Knaus, Migrationsforscher, zum Flüchtlingsabkommen mit der Türkei
- tagesschau.de: Wer hat den Flüchtlingsdeal gebrochen?
- Mit Material der Deutschen Presse-Agentur
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