Europa droht in den Extremismus abzudriften. Nicht erst seit der Griechenland-Wahl, aus der die Regierungskoalition bestehend aus der sozialistischen Syriza-Partei und der rechtspopulistischen "Unabhängigen Griechen" hervorging, ist klar: radikale Ideen haben Konjunktur in Europa. Griechenland ist da nur der Anfang.
Sie eint wenig, aber im Kern sind sie vor allem eines: radikal. Griechenlands neue Regierung wird getragen von Extremen. Weit links, das ist der Wahlsieger Syriza – weit rechts der Koalitionspartner von den "Unabhängigen Griechen". Und obendrein stellt nun die rechtsradikale "Goldene Morgenröte" die drittstärkste Kraft im Land. Es ist dieser Hang zu extremen Positionen, der bei der Parlamentswahl besonders deutlich wurde. Ein Hang, von dem auch der Rest von Europa nicht verschont bleibt.
Denn ein Blick auf die Europawahl des vergangenen Jahres, auf aktuelle Umfragen und Stimmungen zeigt: Europa radikalisiert sich politisch. Das ist zwar ganz im Sinne von Syriza-Chef Alexis Tsipras, der sich einen Ruck in Europa wünscht. Spanier, Italiener, Portugiesen – sie alle sollen sich gegen die Spardiktate aus Berlin erheben. Doch es ist ein gefährlicher Trend: Am linken und rechten Rand gedeihen radikale Parteien mit immer mehr Rückhalt bei den Wählern.
Reiche Länder tendieren nach rechts, Krisenstaaten nach links
Diese Entwicklung ist kein Zufall, sagt Michael Kaeding. "In den Geberländern wird der rechte Rand gestärkt, in den Nehmerländern der linke", erklärt der Professor für Europäische Integration und Europapolitik an der Universität Duisburg-Essen. Das heisst nichts anderes als: Die Menschen in den reicheren Ländern Europas blicken eher nach rechts, während Wähler in den Krisenstaaten sich linken Extremen zuwenden. Beispiele dafür gibt es zu Genüge.
Da ist zum einen die rechte Seite. Die Vertreter der extremen Rechten heissen "Wahre Finnen", Dänische Volkspartei oder Schwedendemokraten. Ihre Positionen lassen sich auf zwei zentrale Punkte reduzieren: eine anti-europäische bis islamfeindliche Haltung und die Forderung einer strikten Einwanderungspolitik. Elemente davon finden sich auch bei der britischen UKIP (Anti-Europa) und dem Front National (rechtsextrem) in Frankreich wieder. Und in Deutschland bedient derzeit Pegida diese Ressentiments.
Grossbritannien und Frankreich
Mit der Europawahl 2014 begann der Vormarsch der extremen Parteien. "Diese Wahl war der Startschuss", sagt Kaeding. In Grossbritannien hoben die Wähler die europakritische "UK Independence Party" (UKIP) mit 27,5 Prozent auf Platz eins, in Frankreich der rechtsextreme Partei Front National (FN) mit rund 25 Prozent. Und die Dänische Volkspartei lag mit knapp 27 Prozent fast sieben Punkte vor den regierenden Sozialdemokraten.
Diese Tendenz setzt sich fort: Wären am Sonntag Präsidentschaftswahlen in Frankreich, erhielte wohl Marine Le Pen die meisten Stimmen. Die Front-National-Chefin käme auf 29 bis 31 Prozent und liesse die Konkurrenten mindestens sechs Prozentpunkte hinter sich, prognostizierte jüngst eine Umfrage des Ifop-Instituts. Auch von den Briten würde etwa jeder Vierte oder Fünfte UKIP wählen.
Schweden
Besonders interessant ist das Beispiel Schweden. Dort duldet die bürgerliche Allianz aus vier Oppositionsparteien eine rote-grüne Minderheitsregierung. Und das nur, weil die ausländerfeindlichen Schwedendemokraten bei den Parlamentswahlen im September 2014 auf fast 13 Prozent kamen und damit alle Regierungsoptionen durcheinanderwirbelten. Auch das beweist die neue Macht der Extremen: Dass plötzlich Bündnisse über Grenzen hinweg entstehen, um die Rechte im Zaum zu halten.
Spanien und Portugal
Anders sieht es in den Krisenländern wie Spanien und Portugal aus. Hier profitierten linke Bündnisse vom harten Sparkurs der Regierungen. Zwar gelingt es, den Schuldenberg zu verkleinern, doch nur mit Einschnitten für die Bevölkerung. Die Arbeitslosigkeit schiesst in die Höhe, die Unzufriedenheit wächst – und entlädt sich schliesslich an der Politik. "Das Volk hat sich von den traditionellen Parteien entfremdet", sagt Europaforscher Kaeding.
In Spanien konnte die erst Anfang 2014 gegründete Linkspartei Podemos schon im vergangenen Jahr punkten und liegt derzeit in Umfragen bei mehr als 25 Prozent. In Portugal hofft das linke Bündnis Coligacao Democratica Unitaria (CDU), in dem auch die Kommunisten vertreten sind, auf einen Aufschwung.
Griechenland
Und dann ist da noch Griechenland. Dass sich wie dort zwei derart unterschiedliche Partner finden, dürfte keine Ausnahme bleiben, glaubt Hermann Schmitt. "Extreme Linke und extreme Rechte treffen sich in der gemeinsamen Ablehnung der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik", erklärt der Professor des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) mit Blick auf künftige Wahlen in EU-Staaten.
Die Themen Umverteilung und Integration – die "beiden Dimensionen", wie Schmitt sie nennt – würden am Ende nicht mehr unabhängig voneinander auftreten. Stattdessen verliere die Frage nach Integration mehr und mehr an Bedeutung – bis schliesslich nur noch das Thema Umverteilung übrig bleibt. Das ist die Lehre aus Griechenland.
Alle Blicke sind auf Alexis Tsipras gerichtet
Noch eine zweite Lehre gibt es: Wenn die Europawahl der Startschuss war, hat Alexis Tsipras nun die erste Hürde genommen. Der Sozialist ist weit gesprungen mit seinen Forderungen – andere radikale Parteien in Europa werden genau hinsehen, ob Tsipras stürzt oder sie von seinem Sieg profitieren können.
So oder so liegen bald mehr Fakten auf dem Tisch: Im April wählt Finnland ein neues Parlament, im Mai die Briten ihr Unterhaus. Im Herbst folgen Dänemark, Spanien, Portugal und Polen. Die Bürger müssen nur ein paar Namen auf einem Zettel ankreuzen. Aber für Europa wird es um seine Werte gehen.
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