Wladimir Putin regiert Russland weitgehend ungestört. Die Opposition ist tief zerstritten, gelähmt, entmutigt. Mit dem Mord an Boris Nemzow hat sie zudem einen ihrer schärfsten Putin-Kritiker verloren. Für den politischen Widerstand ist der Tod des Oppositionellen ein herber Rückschlag. Wohin steuert Russland?
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Wladimir Putin: Autorität als "Staatskunst"
Diesem Bild widerspricht Buchautor ("Russland – Herzschlag einer Weltmacht") und Russland-Experte Kai Ehlers. Ihm zufolge ist es vom Westen überzeichnet. Man traue
Dass jene Politik, die der Kreml selbst als "gelenkte Demokratie" bezeichnet, bei Politikwissenschaftlern eher als halbdemokratisch bis hin zu autoritär gilt, ignoriert der Experte. "Putin ist ein Konsenspolitiker. Das haben viele nicht auf der Platte", ist Ehlers überzeugt. Er sei in der Lage, "genau auszutarieren", welche Kräfte er mobilisieren müsse. "Das ist seine Staatskunst" – und noch dazu eine, auf die "mancher Politiker im Westen neidisch" sei.
"Er ist weder ein Diktator noch ein zweiter Hitler", sagt Ehlers. Vielmehr habe sich Putin durch seiner Suche zum "Konsens" in seiner Position behauptet. Schon als ihn der damalige Regierungschef Boris Jelzin zu sich holte, habe Putin zu Gesprächen gebeten, statt zu befehlen. Diese Politik verfolge er bis heute.
Putin als Konsenspolitiker? Eine These, die Politikwissenschaftler Klaus Segbers, Professor für Internationale Beziehungen am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, nicht teilt. "Putin hat den Stil des Moderierens verschiedener Gruppen und Interessen ausgeübt, weil ihm das eher liegt." Doch scheitert diese Moderation – innen- wie aussenpolitisch – "zieht er sich zurück und trifft einsame Entscheidungen", sagt Segbers. Entscheidungen, unter denen vor allem die russische Bevölkerung zu leiden hat. So sprach der Kremlchef ein Exportverbot für Waren aus der EU aus. Inzwischen kommt es zu Lebensmittelengpässen. Denn auf dem russischen Lebensmittelmarkt haben ausländische Nahrungsmittel einen Anteil von 60 bis 70 Prozent.
85 Prozent vertrauen Putin - sagen Kreml-treue Medien
Trotzdem geniesst Putin, zumindest laut Kreml-treuer Medien, die breite Unterstützung der Bevölkerung. Demnach vertrauen 85 Prozent der Russen ihrem Präsidenten. Die ausserparlamentarische Opposition ist nach Auffassung Ehlers daher "in die Bedeutungslosigkeit" abgeglitten. Besonders die Liberalen gingen "äussert provokativ" vor, erklärt Ehlers. Eine Bedrohung stellt die Opposition für Putin jedenfalls nicht dar: "Sie hat keinerlei Einfluss", meint Ehlers. So hatte Putin selbst unmittelbar nach dem Tod Nemzows betont, dass der Oppositionspolitiker keine Bedrohung für Russlands Führung dargestellt habe.
Auch Segbers sieht die Opposition Putins geschwächt. Allerdings glaubt er, dass sie nun Auftrieb bekommen könnte: "Nach der Ermordung Nemzows und angesichts einer immer weiter nach unten weisenden Wirtschaftslage", könne sich die Lage ändern. "Die Sanktionen beissen." Hinzu kämen der niedrige Ölpreis sowie der abgewertete Rubel. Zustände, die auch der russischen Bevölkerung bewusst würden: "Sie merken zusehends, dass etwas Grosses in Unordnung geraten ist." Segbers stellt sich daher die Frage, wie lange Putin dies dem Westen zuschieben kann, bevor der Verdruss darüber sich auch gegen ihn richtet.
"Es wird keinen Regimewechsel geben"
Buchautor Ehlers glaubt hingegen, dass der Mord an Nemzow die Bevölkerung eher noch mehr zusammenschweissen wird. Die Russen würden erkennen, dass da "Kräfte am Werk waren, die den Konflikt mit Europa nur verschärfen sollen". Putin aus dem Sattel werfen werde die Affäre aber kaum. Ehlers ist sich jedenfalls sicher: "Es wird keinen Regimewechsel geben." Die jüngsten Popularitätsraten, durch Putin-nahe Medien verbreitet, stützen seine These.
Innenpolitischen Druck kennt Wladimir Putin demnach nicht. "Druck kommt bislang von aussen", sagt Segbers. Ob der allerdings zur Aufklärung des Nemzow-Mordes führen wird? Nicht ohne das Einverständnis des Machthabers, ist sich Segbers sicher. Putins Strategie, seine Macht zu festigen, sieht der Politikwissenschaftler im Einfrieren und Verschleppen des Ukrainekonflikts. Diesen Standpunkt kann der russische Ministerpräsident aber nur vertreten, so lange er den Rückhalt der Bevölkerung geniesst. "Wenn seine Popularität sinkt, werden Probleme kommen."
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