Vor 20 Jahren fand die grösste Erweiterung der Europäischen Union (EU) in ihrer Geschichte statt: Mit der EU-Osterweiterung am 1. Mai 2004 stieg die Zahl der Mitgliedsstaaten von 15 auf 25. Bilanz und Ausblick nach 20 Jahren.
In der Nacht zum 1. Mai 2004 stieg die Zahl der Einwohner in der Europäischen Union um fast 20 Prozent, die Gesamtfläche der EU um etwa 23 Prozent. Denn mit der EU-Osterweiterung wurden zehn neue Mitgliedsstaaten aufgenommen: Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn sowie Malta und Zypern. Heute – 20 Jahre später – wird deutlich: Die Erweiterung war ein Erfolg, für die neuen Mitgliedsstaaten, aber auch für die alten.
Rückkehr zum Westen
Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion wollten sich viele der mittel- und osteuropäischen Länder wieder Richtung Europa orientieren. Weil sie sich Europa historisch und kulturell zugehörig fühlten und weil die Sehnsucht nach Freiheit und einer Unabhängigkeit von Russland gross war, sagt Kristi Raik, stellvertretende Direktorin des International Centre for Defense Studies, in der ARTE Dokumentation „Im Osten was Neues – 20 Jahre EU-Osterweiterung“.
Robin Wagener, Osteuropaexperte des Bündnis 90/Die Grünen, sieht in der Erweiterung einen historischen Schritt der Versöhnung nach den Verbrechen des NS-Regimes und einen Schritt hin zur Überwindung der politischen Teilung nach dem Ende der Sowjetdiktatur. Es sei eine Investition in Frieden, Freiheit und Sicherheit und in die Stabilität der mittel- und osteuropäischen Staaten gewesen. „Das ist für uns von Vorteil, denn nur wenn unsere Nachbarschaft stabil ist, können wir das auch sein und in Frieden leben“, sagt Wagener.
Zweifel und Ängste der alten Mitgliedsstaaten
Während der Wunsch, in die EU aufgenommen zu werden, in den mittel- und osteuropäischen Staaten gross war, herrschte vor 20 Jahren in vielen alten Mitgliedsstaaten vor allem Skepsis. Eine Mehrheit der EU-Bürger (54 Prozent) glaubte, dass die Staatengemeinschaft nicht ausreichend vorbereitet war auf eine so grosse Erweiterung. Der Spiegel berichtete 2004 von den Ergebnissen einer Allensbach-Studie: Nur jeder fünfte Deutsche befürwortete demnach die EU-Osterweiterung. Der Grund für die geringe Zustimmung waren vor allem die Angst vor steigender Arbeitsmigration und damit verbundener Arbeitslosigkeit sowie wachsende Kriminalität. Doch diese Befürchtungen traten nicht ein.
„Die Osterweiterung ist eine herausragende Erfolgsgeschichte“, sagt Robin Wagener. Seit dem EU-Beitritt ist das Pro-Kopf-Einkommen in den neuen Mitgliedsstaaten gestiegen, von etwa 52 Prozent des EU-Durchschnitts auf fast 80 Prozent im Jahr 2023. Insgesamt liegt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in den neuen Mitgliedsstaaten noch immer unter dem EU-Durchschnitt, steigt aber stetig an. In Litauen lag das BIP pro Kopf im Jahr 2004 beispielsweise bei etwa 18.000 Euro, bis 2023 ist es auf 71.000 Euro angestiegen. Und auch die Arbeitslosenquote ist gesunken, von 13 Prozent auf vier Prozent im Jahr 2023. Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik sieht in der Mitgliedschaft für die im Jahr 2004 beigetretenen Staaten, einen „Katalysator für Wirtschaftswachstum und die Erzeugung von neuem Wohlstand“.
Der Grund für die positiven wirtschaftlichen Auswirkungen ist nicht nur der Zugang zum EU-Binnenmarkt, sondern auch Gelder der EU, mit denen die Infrastruktur vor Ort ausgebaut und modernisiert werden konnte. Noch sind die im Jahr 2004 in die EU aufgenommenen Staaten Nettoempfänger, das heisst, sie bekommen mehr Gelder von der EU, als sie einzahlen. Das wird sich aber voraussichtlich in wenigen Jahren ändern. Die meisten dieser Staaten befänden sich auf einem „robusten Wachstumspfad, den es ohne die EU-Mitgliedschaft so nicht gegeben hätte“, sagt Kai-Olaf Lang.
Wie die alten Mitgliedsstaaten profitierten
Die Befürchtung, dass eine steigende Arbeitsmigration aus Osteuropa zu Jobverlusten in den alten Mitgliedsstaaten führen könnte, bewahrheitete sich nicht. Vielmehr füllten Arbeitnehmer aus den osteuropäischen Ländern in anderen EU-Staaten Lücken in Berufsfeldern mit starkem Arbeitskräftemangel, sagt Wagener. Und vom erweiterten Binnenmarkt der EU profitierten sowohl die neuen als auch die alten Mitgliedsstaaten. Deutschland exportiert inzwischen beispielsweise mehr Waren nach Polen als nach Italien. Die EU ist heute mit 27 Mitgliedsstaaten und etwa 450 Millionen Einwohnern einer der grössten Wirtschaftsräume der Welt.
Die EU-Osterweiterung hatte neben wirtschaftlichen Aspekten noch eine weitere Dimension: Sie veränderte die Aussengrenzen, sodass die EU nun unter anderem an Russland, die Ukraine und Belarus grenzte. „Die EU hat sich veröstlicht, nicht nur in einem geografischen, sondern auch in einem geopolitischen Sinn“, sagt Lang. Das sorgte bei der russischen Führung für das Gefühl, an Einfluss zu verlieren.
Von Russland wollten sich viele der damals aufgenommenen Staaten lösen, weil sie das Land als Bedrohung wahrnahmen. Über den Umgang mit Russland habe es daher in den folgenden Jahren immer wieder erhebliche Streitigkeiten gegeben, sagt Lang. Die ostmitteleuropäischen Staaten wollten den Einfluss von Russland eindämmen, Länder wie Frankreich und Deutschland bevorzugten einen kooperativen Ansatz – Wandel durch Handel. Auch in anderen Politikfeldern wie der Migration oder der Energiepolitik stiess man auf Herausforderungen, weil durch eine Zunahme an verschiedenen politischen Interessen manches komplizierter geworden war, sagt Lang.
Immer wieder gebe es in Bezug auf Korruption und Rechtsstaatlichkeit in einigen Staaten Konflikte mit der EU, so Lang. Deshalb sei es wichtig, genau zu überprüfen, welche Staaten gegen EU-Richtlinien verstossen und dies auch zu sanktionieren, sagt Wagener. So wie es bereits in Polen und Ungarn der Fall war.
Die Gegner der Europäischen Union
Trotz der Erfolgsgeschichte der EU, gibt es immer mehr EU-kritische Stimmen, Rufe nach mehr Nationalismus oder gar einem Austritt aus der EU nach dem Modell von Grossbritannien. Diese Tendenzen lassen sich in osteuropäischen und in westeuropäischen Staaten beobachten, bei rechtspopulistischen Parteien und in der radikalen Linken. Wagener sieht in der Zunahme von antieuropäischem Populismus eine grosse Gefahr. „Das ist in der EU gewachsen und es wird von aussen unterstützt und das macht mir Sorgen“, sagt Wagener.
Kürzlich sind die engen Verbindungen von AfD-Politikern nach Russland und China bekannt geworden, es geht um Zahlungen aus Moskau und Spionage für China. Die Zukunft der EU hänge deshalb auch davon ab, ob der Einfluss von Autokraten abgewehrt werden könne. Gelinge das nicht, „dann ist das eine riesige Gefahr für uns in Europa“, sagt Wagener. Eine enge Zusammenarbeit der demokratischen Kräfte hingegen könne die EU nachhaltig stärken, auch gemeinsam mit neuen Mitgliedsstaaten, die die Idee der Europäischen Union unterstützen. Eine Idee von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Über die Gesprächspartner:
- Robin Wagener ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Osteuropaexperte des Bündnis 90/Die Grünen. Er ist unter anderem Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union.
- Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik und Teil der Forschungsgruppe EU/Europa. Seine Forschungsgebiete sind die Baltischen Staaten, Mittel- und Osteuropa, die EU-Erweiterungspolitik, die Europäische Union und Östliche Partnerschaften.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Robin Wagener, Mitglied des Bundestages und Osteuropaexperte des Bündnis 90/Die Grünen
- Schriftliches Interview mit Dr. Kai-Olaf Lang, Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, Forschungsgruppe EU/Europa
- eu-info.de: "Erweiterungen 2004 und 2007"
- www.bmwk.de: "20 Jahre EU-Erweiterung"
- arte.tv/de: "Im Osten was Neues - 20 Jahre EU-Osterweiterung"
- www.buergerundstaat.de: "Der Bürger im Staat – Die Osterweiterung der EU"
- spiegel.de: "Deutsche lehnen EU-Osterweiterung ab"
- ost-ausschuss.de: "Grosse Erfolgsgeschichte ermutigt zur Integration weiterer Länder"
- bpb.de: "Nettozahler und Nettoempfänger der EU"
- bmwk.de: "Fakten zum deutschen Aussenhandel"
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.